Musikgeschichte

Teil 1 - Sven Rudloff
Anthropomagie
[gr.-lat.] die; -: Kurzbezeichnung für das gemeinsame Auftreten einer Anthropomanie mit einem skeptischen Syndrom. Der Betroffene hält sich für ein menschliches Wesen (Homo sapiens sapiens) und leidet unter dem Wahn, kraft seiner Kognition unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Methoden Erkenntnisse über die so genannte Realität erlangen zu können. Diese kombinierte Verkennung biologischer Tatsachen und des gesicherten improbabilistisch-fatalistischen Weltbildes wird von Spezialisten wie KENZO als besonders schwer wiegende Persönlichkeitsstörung eingestuft, die im Endstadium meist nur durch wiederholte erzwungene Reinkarnation zu heilen ist. Im Frühstadium erkannte A. lässt sich nachweislich auch mit progressiver Neuronenrelaxation nach KLEIN und Selbstgesprächstherapie nach LAGERFELD erfolgreich behandeln. Indizien für A. sind u.a.: Essen (Schokoholismus), Trinken, Nachdenken, inquisatorisches Verhalten, Beharren auf der Existenz von Naturgesetzen (Newtonismus) und die Freude an Selbstbezüglichkeiten (Ipsophilie, siehe auch Anthropomagie).
”Na, das erklärt einiges”, dachte sich Qed, und schaltete die Enzyklopädie mit besorgter Miene aus.

Teil 2 - Ursula Merten
Er erhöhte mit einem kurzen Blick auf die See-Screen-Steuerung seines Wohnpavillons die Wandtransparenz bis zur Durchsichtigkeit und beobachtete nachdenklich eine wenige Meter entfernte Herde Einhörner, die friedlich graste. ”Zoodesigner hätte ich werden sollen,” dachte er, ”die können sich alles erlauben”. 400 Jahre vor seiner Zeit war die terrestrische Fauna und Flora auf wenige zähe Arten (überwiegend kakerlaken- und kakteenartige Lebensformen) reduziert gewesen. Dies rief ein paar besonders kreative Genetiker auf den Plan mit einem viel zu ausgeprägten Hang für Fantasy-Romane. Immerhin war nun eine - wenn auch gewöhnungsbedürftige - Artenvielfalt wieder hergestellt, und den wenigen noch auf der Erde lebenden Menschen war jeder schädigenden Eingriff in die Natur untersagt. Mobile Wohneinheiten, die sich zum einen komplett selbst versorgten, zum anderen nicht nur auf Wunsch den freien Rundumblick, sondern auch Gerüche oder sogar das Wetter der Umgebung lieferten, machten es möglich. Auf das Geruchserlebnis verzichtete Qed jedoch gern: Einhörner regulierten ihre Sozialstrukturen über Pheromone, die auf humane Spezies interessante Wirkungen hatten. Außerdem waren sie übel riechend, was die Konstruktion eines spezifischen Feindes erforderte: ein tigerähnliches Wesen, dem man trotz der Abneigung gegen die übermächtig gewordenen Insekten einen Chininpanzer gegeben hatte - wegen der Hörner.
Qed riss sich zusammen - die dreidimensionale Doppelhelix in der Raummitte erinnerte ihn an seine Aufgabe. Er drehte sich um und musterte die rot-blinkende Stelle des DNA-Modells, an der sein Biosimulator das Gen für Anthropomagie entdeckt hatte. Diese Stelle hatte er bei seiner letzten Auftragsarbeit für den USC (Univision Song Contest) nachlässigerweise nicht beachtet - das Ergebnis war ein fettsüchtiger Tenor, der sang, als ob Caruso und Callas persönlich seine Eltern gewesen waren (was genetisch zugegebenermaßen weitgehend zutraf - dank einiger illegalen Entnahmen aus genhistorischen Datenbanken) und der sich bereits in der Vorausscheidung des Wettbewerbes weigerte, überhaupt auf die Bühne zu gehen, weil er den Sinn des Lebens lieber in Archäphilosophie als im Gesang suchte. Wie bei so vielen Technologien brachte auch die Gentechnik Probleme mit sich, die erstens die im Vorfeld erhobenen Befürchtungen ziemlich albern erscheinen ließen und zweitens völlig anders gelagert waren als erwartet.
Nun gut, er hatte noch 25 Jahre bis zum 750-jährigem Jubiläumswettbewerb des USC, und wenn Qed keine Wachstumsbeschleuniger benutzen wollte, musste er das DNA-Design seines künstlerischen Beitrags langsam abschließen.

Teil 3 - Jörg Kunze
Doch es fehlte noch etwas. Sozusagen das gewisse Etwas. Der Kniff, der Dreh, eben das Besondere. Ferne nur, meinte er zu hören, klapperten Ams Schritte durch die Zimmer. Waren sie etwa real? -
”...Einhörner” dachte er, die rastlosen Gedanken schweiften ab, zogen Kreise, streiften die vergangenen Geschichten der Einhörner. Es fielen ihm die Worte seines Professors ein, der immer wieder predigte: ”Wenn du Neues schaffen willst, musst du alte Werke lesen, die keiner mehr kennt. Es gibt nichts wirklich Neues, was noch keiner gedacht hat.” Qed lächelte, dachte an Am. Einer plötzlichen Eingebung folgend ließ er mit einer Handbewegung die Einhörner wieder verschwinden und transformierte die virtuelle Innenarchitektur des Zimmers in ein mittelalterliches Laboratorium. Nach ein paar weiteren, geschickten Bewegungen und mit dem triumphalen Gefühl des geglückten Datendiebstahls öffnete sich das holografische Buch der ”Alchymen kunzt”. Und gierig las Qed zwischen symbolhaften Abbildungen:
”Waz geschên / mac vergên / waz êrsonen / wirt gesponen / antimon nême / bismuth un blî / bîstandt ersêne / des üeplen sey vrî / der kolpen gerînict / sî ouf der huot / wen es sic verînict / mac gêben es guot / ouch sî auf der huot / den de hize ze vîl / ze vîl frôer muot / verdirpt dir das spîl / der küenec mac sterben / des sî dir gesact / doh sol wîs sic fearpen / waz zu vor beclact / est waschit de rêgen / das schwaerze hin wec / der pelican fliget / aus sînem verstec / in înic vebindunc / von vênus unt sol / vesincet dî findunc / im liht bâren hôl / dâr aus erwahe / das môndene î / schluopfit de drahe / unt komt dar ob frî / es prezit di schlange / wô aus sî erwaht / ...”
Wie eine Weissagung klangen die Worte. Den Klang im Gedanken weiter murmelnd, öffnete er seine Sinne und versuche, es zu SEHEN. Das zu sehen, was der Autor dieses Werkes gesehen hatte. Doch mit den Augen, dem Potenzial und den Mitteln des modernen Anthropodesigners, der sich auf den Jubiläumswettbewerb des USC vorbereitet. Der DIE Idee sucht.
- Jäh schreckte er hoch, denn alles hatte er erwartet. Nicht DAS. Nicht das, was es jetzt sah. Er wischte den Gedanken beiseite, doch klang es "... was ersonnen / wird gesponnen /...".
Der Drachengedanke war aus dem Mondei geschlüpft. Als Schlange kroch er aus den Tiefen des Es hervor, als schuppiges Ungeheuer schlängelte er sich am Alter Ego entlang, drückte langsam gleitend mit seinem schweren, glänzenden Leib die rastlose Stimme aus dem Über-Ich. Umschlang zerpressend selbst sein innerstes Ego. Mehr und mehr quollen qualvoll Qeds Augen der Selbsterkenntnis aus seiner Persönlichkeit hervor. Während im Lebenskampf Zug um Zug Athman aus der Seele entwich.
Waren es Minuten, die der äußerlich fast unsichtbare Kampf dauerte? Für Qed waren es Ewigkeiten. Dann hatte DIE Idee gesiegt. Und sie beschloss, Realität zu werden.

Teil 4 - Dieter Gellermann
Währenddessen lag Am in dem Nebenraum, den man früher einmal Küche genannt hätte. Wie ein Arbeitsplatz sah das allerdings schon lange nicht mehr aus. Alles hier war digital vernetzt. Selbst differenzierte Rezepte ließen sich per Fingerpad-Screening in Schmackhaftes umsetzen ohne aufzustehen. Geniale Schüttvorrichtungen ließen kleinste Gewürz-Prisen in Remote-Kochtöpfe rieseln. Meistens hatte alles einen gewissen schoko-süßen Geschmack, aber das lag am Zeitgeist der letzten zweihundert Jahre. Zum Zeitgeist gehörte auch, dass Am wie allen anderen körperliche Arbeit schon lange fremd war.
Am war mit der Situation alles andere als zufrieden. Seine Gedanken waren fast ununterbrochen bei Qed nebenan und er verstand gar nicht, in welcher bizarren Welt der Partner lebte. Hatte er kein Interesse an Schmorkel-Dorkel, keinen Spaß an Hypernet-Giershows, keine Lust, sich in der Gleitzeit einen Flutsch-Flattscher auszuleihen und sich so den protrimilliennsten Kick zu geben? War er den Vergnügungen seiner Zeit voraus, wenn er von neuen Formen von Magie sprach? Was konnte er den Vorträgen von KENZO, KLEIN und LAGERFELD abgewinnen? Schließlich waren sie schon lange vor der Zeit verstorben, bevor man das Unsterblichkeits-Gen entdeckt hat.
Er erinnerte sich auch daran, dass ihn seine Supramutter vor Bindungen gewarnt hatte, die nicht ebenbürtig sind. Qed entsprach nicht dem Traum seiner Supramutter, war er doch ein Fantast, der in einer anderen Welt zu leben schien, dabei mäßig erfolgreich war, aber für viele ein Geheimtipp war und möglicherweise auch bleiben sollte.
Am schätzte Qed sehr, sonst hätte er es auch nicht bereits 62 Jahre mit ihm ausgehalten. Aber Leute wie Qed, die vielseitig waren und über ein reiches Wissen verfügten, entsprachen nicht dem Mainstream der Zeit. Qed hatte bereits in mehreren Epochen gelebt, aber gerade das machte ihn jetzt nicht sonderlich beliebt. Am erkannte, dass Qed diese Begabung brauchte, um seine Geschöpfe erstehen zu lassen. Wer nicht wusste, wie Elvis oder Pavarotti aussahen, konnte auch nicht mit deren Pfunden wuchern.
Mitten aus seinen Gedanken heraus wurde Am herausgerissen, als es im Nebenraum plötzlich für mehrere Sekunden ein schauriges Geklapper gab und ein gleißend hellblaues Licht unter der Rollomatic-Türe hindurch drang. Was war geschehen?

Teil 5 - Anca Zimmermann
Am schaute misstrauisch auf die Tür. Es war keine gute Idee, sofort aufzustehen und nachzuschauen. Sich immer gleich in Abenteuer stürzen, das war Qeds Sache.
Aber es kam nichts weiter, kein zweiter Blitz, kein geheimnisvoller Nebel, wie er es in Qeds alten Vids gesehen hatte. Vielleicht war es doch ungefährlich nachzuschauen, wie es im Wohnzimmer zuging? Irgendwann würde er ohnehin hineingehen müssen. Das Essen war in wenigen Augenblicken fertig, er würde Qed holen müssen. Ohne seine Ermahnungen würde Qed tagelang nichts zu sich nehmen, wenn er in ein Projekt vertieft war. Hoffentlich war dieses hier bald vorüber. Dann würde es wieder Wochen der Ruhe geben, wo sie gemeinsame Unternehmungen starten könnten und Qed nur hin und wieder in alten Büchern stöbern würde. Bis das nächste Projekt kam. Am seufzte und richtete sich auf, ließ die Beine von der Schwebeliege baumeln.
"Tür", sagte er. Gehorsam glitt die Rollomatic-Tür zurück und gab den Blick frei auf den dunklen Wohnbereich. Aus sicherer Entfernung sah Am auf das dunkle Loch, das die Tür in der Küchenwand beschrieb."Licht!" sagte Am und erwartete eine überflutende Beleuchtung des Wohnraumes. Stattdessen flackerte ein schwaches Licht auf, gerade genug, um die Decke in einen milchigweißen Schein zu tauchen. So geht das nicht, ich kann ja überhaupt nichts sehen, dachte Am. Warum musste Qed auch immer die Wände verdunkeln. Am fand es unvernünftig, die Außenwelt auszusperren, aber Qed lebte oft in einer eigenen Welt und brauchte den Blick nach außen nicht.
"Wand aufhellen", befahl Am. Die Wand wurde durchsichtig und gab den Blick frei auf die weite Wiese. Von der Herde Einhörner, die sonst immer vor dem Fenster graste, war keine Spur zu sehen. War etwa ein Panzertiger in der Gegend unterwegs? Und was war das für eine Unordnung im Wohnraum? Am glitt von der Schwebeliege und lehnte sich gegen den Türrahmen, um das Chaos zu betrachten. Uralte unbequeme Hocker lagen umgestürzt in der Gegend, ein genauso alter Labortisch war mit unzähligen Glassplittern übersät. Nur gut, dass sie sich eine virtuelle Innenarchitektur angeschafft hatten, sonst würde der Pflegerobot Stunden brauchen, um diese Unordnung zu beseitigen.
Dann stutzte Am. Etwas war nicht richtig, etwas hatte sich verändert, das über die Unordnung hinausging. Und dann dämmerte es ihm. Das DNA-Modell war verschwunden. Es hatte in der Raummitte gehangen, seit Wochen schon, und das Ensemble jeder virtuellen Einrichtung gestört. Qed hatte darauf bestanden, es immer vor Augen zu haben, egal wie sehr Am ihn vom Gegenteil überzeugen wollte. Und jetzt war es einfach weg, keine Spur von ihm zu sehen.
Eine Bewegung hinter dem Labortisch ließ Am sich am Türrahmen festklammern. Eine Hand reichte auf den Labortisch herauf. Sie war über und über mit Schuppen besetzt und erinnerte Am an Bilder von Eidechsen und Schildkröten.
Na wunderbar, jetzt hat Qed einen Tenor mit Schuppenhaut gebastelt! dachte Am. Wie will er den denn auf dem USC präsentieren?

Teil 6 - Ortrun Mack
Der Hand folgte ein Arm, smaragdgrün und muskulös, die Schuppen zogen sich vom Handrücken zur Außenseite des Armes bis zum Ellenbogen und verschmolzen dort mit der glatten, ledrigen und wie es schien chlorophyllhaltigen Haut, dann folgte eine Schulter, eine kräftige, geschwungene Nackenlinie hob sich gegen das helle Fenster ab und etwas zog sich ächzend empor. Am stockte der Atem, als sich dieses Wesen aufrichtete. Grün war es, von den Zehen bis zu den spitzen Ohren und auf dem kahlen Schädel bogen sich zwei Antennen! Zwei Augen, die wie Tore zur Hölle glühten und Zähne, spitz, denen man ansah, dass sie Waffen waren. Das Wesen hob die klauenbewehrten Hände und betrachtete sie. Es erinnerte sich wie an einen Traum an den Drachen, einen Wunsch, an den unbeugsamen Willen und an den Kampf. Als es die Zähne fletschte und knurrte, verließ Am der Mut.
”Äh, Qed? Kannst du mal nach deinem Projekt sehen?”
Und fast sofort bereute er es, die Stimme erhoben zu haben, denn die Augen des Wesens trafen seinen Blick und das wilde Lachen darin ließ ihm die Knie weich werden. Am stolperte zurück und landete unsanft auf der Schwebeliege, deren Generatoren aufsummten, als sie sein Gewicht auszugleichen trachteten. Was hatte Qed nur angestellt? Warum hatte er so ein Monster erschaffen? Er hatte doch gesagt, dass er diesmal keine Wachstumsbeschleuniger verwenden wollte. Und warum antwortete er nicht?
”Qed?” quiekte, quittengelb vor Angst, Am, der Panik nahe. Und warum war dieses grüne Wesen in zerfetzter Kleidung, die bei genauerem Hinsehen verdächtig nach den Resten von Qeds blauem Overall aus Titanseide aussah, so schrecklich anzusehen? Ein Tenor war es doch sicherlich nicht und selbst wenn noch genügend Zeit war, das Wesen bis zum Jubiläum zu trainieren, so würde das USC- Komitee wohl kaum ein Monster zum Wettbewerb zulassen. Das Wesen hob seine geballten Fäuste empor und lachte wild. ”Hahaha, endlich frei!” Ams Rückzug mit einem, wie es schien, befriedigendem Grinsen beobachtend, sprang es behände über den Labortisch und die zerbrochenen Reagenzgläser, Kolben Retorten und einem zerfetzten, auch mit seiner aus einem Ei steigenden Gestalt bebilderten Schriftstück hinweg. Am hämmerte wie wild auf der Steuerkonsole seiner Schwebeliege herum, als das Wesen sich näherte, doch in seiner Panik war Am nicht fähig, die Steuerung korrekt zu bedienen. Warum gab es keinen Panikschalter, der ihn in Sicherheit bringen könnte? ”Tür!” schrie Am, und gehorsam schloss sich die Rollomatic-Tür. Keuchend und wie gelähmt starrte er auf die Lamellen. Er fürchtete sich vor dem Wesen und davor, dass die Türe kein Hindernis sein könnte. Sie war es nicht. Ein Ball aus reiner Energie fegte die Tür hinweg und in dem rauchenden Rahmen zeichnete sich die bemerkenswerte Silhouette des grünen Wesens ab, das mit einem weiteren Sprung an Ams Seite war. Ein quiekender, unartikulierter Laut entschlüpfte Am, als sich das Wesen mit diesem kaum gezügelten wilden Lachen in seinem brennenden Blick über ihn beugte, ihn mit stählernen Griff am Handgelenk packte und in die Luft riss. Sein heißer Atem strich über Ams Gesicht. ”Na, soll ich dich auch von deinem jämmerlichen Dasein befreien?”
”Qed!!!”

Teil 7 - Daniela Heide
“Ja, ich bin es. Trau deinen Augen!” erwiderte das ?.. ja was? Qed mit etwas, was wohl ein Lächeln sein sollte, jedoch ob der spitzen Eckzähne wenig beruhigend wirkte. War dieses Wesen real? Hatte Am am Abend zuvor vielleicht die Neurophoria-Dosierung falsch berechnet? Weder verspürte er das charakteristische Kribbeln im Solarplexus noch den typischen Heißhunger auf Schokolade, den solche Exzesse sonst mit sich brachten, und dennoch hatte diese Wahrnehmung etwas so Surreales, wie er es sonst nur von Psychopharmaka der zweiten und dritten Ordnung kannte.
Ein kurzer subvokalisierter Befehl löste die Ausschüttung von hoch konzentrierten Disphorika in seine Blutbahn aus, die diese Halluzination erfolgreich bekämpfen sollten.
Zwei Sekunden vergingen, dann drei, und noch immer stand das ... Etwas vor ihn und schaute ihn erwartungsvoll an. “Du bist nicht real, du bist nicht real..... Ich habe Halluzinationen .... Ich habe zu viel Stress.... Der 3D-Projekter hat eine Fehlfunktion ... Du kannst nicht real sein....” stammelte Am erst hektisch, dann panisch.
“Ich bin nicht real?” Ein dröhnendes Lachen ließ Am noch einen weiteren kleinen Schritt zurückweichen, soweit es der klammernde Griff an seinem Handgelenk zuließ. “Ich bin nicht real?! Was ist dann mit Schmerz? Ist Schmerz real?” Es... verstärkte seinen Griff und zwei Bluttropfen quollen aus einer sich langsam öffnenden Schnittwunde am linken Handgelenk. Kostbares Erbmaterial tropfte auf den virtuellen Teppich, während gleichzeitig winzige NanoSani-Moleküle an der Wundstelle andockten und Zellwachstumsbeschleuniger gezielt an die verletzten Stellen transportieren.
Toll, ich blute, dachte Am und sah sein Gegenüber resigniert an. Dieses … Etwas ist real und gefährlich (alive and kicking, sozusagen), Qed wahrscheinlich tot - oder schlimmer - und ich habe wegen der blöden Disphorika eine ausgewachsene Depression am Hals...

Teil 8 - Raphael T.
Ams Verstand war voller Sinneseindrücke, welche auf ihn einwirkten. Er spürte den heißen Atem des Drachen auf seiner Haut und einen festen Druck um seinen Arm, nahm dies alles jedoch nur schemenhaft wahr. Er spürte kaum noch, dass er schon wieder - oder noch immer? - in der Luft baumelte. Wie konnte er sich nur aus dieser bedrohlichen Situation befreien?
Plötzlich bemerkte Am undeutliche Veränderungen: der Drache unterbrach sein einseitiges Gespräch, seine Motorik erlahmte und die schillernden Augen wurden seltsam glasig. Einen Augenblick später brach der riesige Körper zusammen. Am verstand das nicht. Unter den riesigen Zehen des Drachen entdeckte er schließlich ein unförmiges, porenreiches Wesen - einen tropischen Schwamm, welcher offenbar eine schnelle allergische Reaktion im Kreislauf des Drachen auslöste, unterstützt durch die emfindliche Haut unter dessen Fußsohlen. Qed hatte erst vor Kurzem das marine Leben für seine Forschungen entdeckt. Darin fand er noch immer bisher unbekannte Gene, deren biologischen Möglichkeiten ihn faszinierten.
Hatte ihm - Am - dieses einfache Wesen ohne Nervensystem und Sinnesorganen tatsächlich das Leben gerettet? Er beschloss, die kleine Kreatur draussen zu begraben, und so hob er den Schwamm behutsam aus seiner Pfütze und nahm ihn mit. Dabei war es wohl mehr einer glücklichen Fügung als Ams Verstand zu verdanken, dass nicht auch seine Gesundheit Schaden nahm.
Schon beinahe hatte er das Laboratorium verlassen, da bemerkte Am das alte Buch, dessen Seiten im schweren Atem des Drachen raschelten. Zwar verstand er nicht die alten Schriftzeichen - überhaupt las er nur ungern, womit er bei Qed auf ein stetiges Unverständnis stieß. Ihm fiel jedoch eine Darstellung sofort auf. Sie zeigte eine schlüpfende Echse, welche dem bewusstlosen Ungeheuer in Ams Nähe auffallend glich. Folglich packte er das dicke Werk mit ein, in der Hoffnung jemanden finden zu können, der die bedeutungsschwangeren Worte für ihn deuten würde. Er versperrte den Ausgang und ließ den Wohnpavillon hinter sich zurück.
Draußen dämmerte es bereits; so nah am Äquator schlug der Tag schnell in die Dunkelheit um. Und die Nacht würde Neues bergen. Insekten - Tiere, welche es verstehen sich zu tarnen, bevölkerten die Steppe. Am fürchtete sich vor ihnen, hatte er sein Heim doch nie mehr als einige Meter weit verlassen, seit er vor langen Jahren mit Qed zusammengezogen war. Tatsächlich lauerte hier eine gewisse latente Gefahr. Das Unsterblichkeitsgen mochte ihn vor Krankheiten und Gebrechen schützen, doch nicht vor dem, was in der Wildnis auf ihn lauern könnte.

Teil 9 - Hans Martin Fandrich
Zum Glück hatte er gespart. Am verfügte noch über zwölf ganze Resets für seine Körperlichkeit. Qed hatte ihn stets beneidet um das fast vollständige Unsterblichkeitsgen. Qed hatte seit 200 Jahren jedes Reset vermieden, weil ihm nur noch zwei verblieben waren, nachdem er in einem wundersamen Ritterspiel zehn Mal hintereinander die Leibkonfiguration neu aufgesetzt hatte, statt einfach die lächerliche Blech-Rüstung zu dematerialisieren.
Solche Überlegungen stellte Am an, um seine rasche Rückkehr ins Labor nicht Flucht nennen zu müssen. Und er konnte hier die Gedankengänge logisch fortsetzen: Qed hatte immer schon seinem Hang zur Vergangenheit, zu längst überholtem Wissen nachgegeben. Versonnen las er in der „Alchymen kunzt“ noch einmal: …schluopfit de drahe / unt komt dar ob frî / es prezit di schlange / wô aus sî erwaht / ...”
Am erschrak über den Präsens. Qed hatte eben nicht die Innenarchitektur in ein beliebiges mittelalterliches Labor transformiert, sondern sein ganzes Labor ins Mittelalter verlegt! „Verdammt“, sagte er sich „ich muss Qed finden. Nur er kann uns zurückbeamen, ich bin ja völlig nackt ohne Waffen ins Labor gekommen. Sogar den Brain-Code für die Rollomatic-Tür habe ich im Gedankenhelm vor der H2O-Dusche zurückgelassen!“
Vor der Höhle des Alchymisten (Am wollte schon der Gerüche wegen diese Räumlichkeit nicht Laboratorium nennen) gab es Geräusche. Schritte näherten sich. Die Pranke des Drachen zog sich in den dampfenden Kessel zurück, der wieder bedrohlich zu brodeln begann.
Es klopfte an die schwere Eichentür. Am vergewisserte sich, dass der Riegel vorgeschoben war und rührte sich nicht. Es klopfte erneut in einem eigenartigen Rhythmus. Dann ein Flüstern, das jedoch im ganzen Raum dröhnte: Qed hatte wieder mal den Röhrenverstärker in Funktion gebracht, um den ihn das Hypernet-Museum beneidete - das Enteignungsverfahren lief schon. „Bruder Berthold“ rauschte überlaut es aus dem Lederhocker, den die Verstärkerautomatik wohl als Membran ansteuerte.
Am griff nach dem Buch, das auch er für eine holografische Darstellung gehalten hatte. Es war real. Das Material fühlte sich an wie sehr dünnes Blech. „Papier oder Pergament“ schoss es ihm durch den Kopf und er schlug das Deckblatt auf: „Labor-Tagebuch Doctor Berthold Schwartz“, konnte er eben noch entziffern. Da wurde der Lärm vor der Tür unerträglich. Schwere Schritte, Kettengeklirr, das Rasseln von Metall und die verzweifelte Stimme von vorhin: „Bruder Berthold! Du bis unsere letzte Rettung - unsere Klause wird überfallen…“ verlöschte in einem röhrenverstärkten Röcheln.

Teil 10 - Stephan Meyer
Am öffnete die schwere Sichtluke der Eichentür, warf ganz kurz einen Blick nach draußen und knallte sie sofort wieder zu. Was er sah, ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren…
„Das darf nicht wahr sein“, dachte Am. „Kaum bin ich wieder zurückgekehrt ins Labor, in dasselbe Labor, das Qed kurz zuvor in einen fremdartigen mittelalterlichen `Kindergarten´ verwandelt hat, kaum habe ich eine mordlüsterne Amphibie ruhig gestellt, kaum will ich mich darum kümmern, Qed wieder aufzutreiben, damit wir endlich aus diesem Schlamassel wieder herauskommen, da taucht dieser ausgelaugte Mönch vor meiner Tür auf. Ich will ihm ja helfen. Aber wie? Offenbar hält der Mönch das Labor für die Werkstätte von Berthold Schwartz. Wenn ich ihm jetzt in meinem quietschgrünen Membranganzkörperanzug öffne, muss er mich doch für ein Marsmännchen halten.“
Am überlegte blitzschnell. Um den Mönch mental nicht zu überfordern, entschied er, sich selber für Doctor Berthold Schwartz auszugeben. Er riss einen braunen Vorhang, der das Labor vom Nachbarzimmer trennte, herab und wickelte sich darin ein. Dann nahm er etwas von der dicken Paketkordel und band sie sich geschwind um den Bauch. So getarnt, öffnete er mit gewaltigem Kraftaufwand die schwere Eichentür, woraufhin ihm der völlig erschöpfte Mönch schon entgegenplumpste. „Bruder Berthold“, röchelte er, bevor er das Bewusstsein verlor.
Am handelte schnell. Er zerrte den Mönch sofort hinein, legte ihn auf eine lederbezogene Couch (die Jahrhunderte später einmal in den Besitz von Sigmund Freud übergehen sollte) und rieb ihm eine besondere Flüssigkeit unter die Nase. Der Mönch erwachte stöhnend aus seiner Bewusstlosigkeit: „Was…? Wie…?“ „Willkommen in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Alchemysten AG!“ witzelte Am. Er versuchte, seiner Stimme einen freundschaftlich-dröhnenden Klang zu verleihen, so wie er sich einen Tüftler wie Berthold Schwartz eben vorstellte. „Ich habe gerade wieder deine Lebensgeister erweckt mit einer Erfindung, die unser Bruder Frantz erst vor wenigen Tagen fertig gestellt hat: Dem Frantzbranntwein. Aber nun erzähl erst einmal!“
Und der Mönch erzählte davon, wie seine Klause von einer Räuberbande überfallen wurde, wie nur er als Einziger der Mönche entkommen konnte und dass nur Bruder Berthold mit seinem neuen explosiven Pulver die Klause wieder befreien könne. „Das will ich gerne tun“, sagte Am, „doch zuerst brauche ich deine Hilfe. Mein Freund hier“, und er zeigte auf den immer noch erschöpft in der Ecke herumliegenden Drachen, „ist eigentlich ein Mensch. Wenn du ihn zurückverwandeln kannst, könnten wir dir gemeinsam helfen.“
„Nichts leichter als das“, erwiderte der Mönch. „Dafür haben wir Ordensbrüder unsere eigenen Mittel!“ Er zog ein Weihrauchfässchen unter seiner Kutte hervor, wedelte damit vor dem Drachen herum, murmelte etwas in seinen Bart und siehe da: Der Drache mutierte erstaunlich schnell wieder zum guten alten Qed. Ams Freude mischte sich mit Ärger über die Situation, in die Qed sie beide gebracht hatte. „Du Pappnase“, fuhr er Qed an. „was hast du dir dabei gedacht?“
„Sorry“, grinste Qed, „ich wollte doch nur einen Kandidaten für den Univision Song Contest erschaffen. Nachdem mir der Erste als Tenor so daneben gegangen ist, habe ich einen zweiten Versuch gestartet. Inzwischen hatte ich ja das Gen für Anthropomagie entdeckt. Aber das Ausmaß der Katastrophe war noch viel schlimmer. Der Kandidat ist mir im Raum-Zeit-Kontinuum irgendwie an den Anfang des 21. Jahrhunderts gerutscht. Es fing alles ganz gut an: Der Betroffene hielt sich wirklich für ein menschliches Wesen. Er eröffnete eine Herrenboutique in München in der Maximilianstrasse. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er per Anthropomagie erschaffen wurde, war übrigens, dass er unbewusst die Codewörter aus unserem Wörterbuch KENZO, KLEIN und LAGERFELD in die Schaufensterauslage legte. Und trotzdem hat keiner seiner Mitmenschen etwas gemerkt. So weit, so gut! Aber als er dann mit seinem Hündchen an der Song Contest Vorausscheidung teilnahm…“ Qed seufzte tief.
Indessen rutschte der Mönch unruhig auf seinem Schemel hin und her. Am kam ihm zu Hilfe: „Qed, das kannst du uns alles nachher ausführlich erzählen. Jetzt müssen wir erst einmal unserem Freund hier helfen!“

Teil 11 - Jutta Fischer
„Was ist denn los? Warum braucht er Hilfe?“ fragte Qed, der immer noch etwas benommen wirkte. Der Mönch wiederholte seine Geschichte, und Qed wurde sehr nachdenklich. „Sagen Sie, junger Mann, wie sind Sie eigentlich hier hereingekommen?“ fragte er mit einem erwartungsvollen Unterton in der Stimme. Verstohlen griff er nach einem Gegenstand auf seinem Labortisch.
„Na, der Bruder dort hat mich hereingelassen, als ich geklopft habe!“ erwiderte der Mönch aufgebracht und wies auf die schwere Eichentür. „Aber was soll das ganze Gerede, ich brauche Hilfe!“
Qed deaktivierte mit einer Handbewegung das SimuReal-Deck und fragte „Woran denn geklopft?“ Die schwere Eichentür war natürlich verschwunden, wie auch die übrige mittelalterliche Einrichtung.
„Waaah!“ sagte der Mönch.
„Ja“, sagte Qed und stach dem Mönch geschickt die Kanüle in den Arm, die er hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, „dann wollen wir doch mal sehen!“ Er schaltete den 3D-DNA-Projektor wieder ein und injizierte die Blutprobe des Mönchs in den Analysator. Die DNA-Projektion, die Am seit Wochen jeden Tag mit wachsender Langeweile gesehen hatte, wurde von einer zweiten überlagert, deren Farben sich sehr hübsch mischten und ergänzten.
„Qed!“ rief Am, „damit können wir reich werden! Das ist der Deko-Artikel schlechthin!“
„Schnickschnack!“ erwiderte Qed und schubste den völlig verstörten Mönch beiseite. „Siehst du nicht die sich selbst kalibrierenden Rastersäuren? Und hier die kollabierenden Frequenzpulsare? Ich ahnte doch, dass mit Anthropomagie etwas zu machen sein würde. Natürlich musste ich das Agens erst selbst aufnehmen, bis er zur Manifestation kam - wieder ein Reset, aber na ja, vielleicht ist es das ja wert…“
Er blickte den Mönch aufmunternd an. „Junger Mann, Sie sehen zwar etwas übermüdet und unterernährt aus, aber dürfte ich Sie trotzdem um eine kleine Stimmprobe bitten?“ Er zückte ein Notenblatt und hielt es dem Mönch hin. „Wie heißen Sie eigentlich?“
„Eliot Dracs, Sir. Natürlich vor dem Gelübde, jetzt bin ich Bruder Lancelot.“
„Na, das wollen wir ganz schnell vergessen“, sagte Qed. „Sing!“
Eliot Dracs aka Bruder Lancelot griff verwirrt nach dem Blatt. „Ehhh…“, sang er vorsichtig.
„Lauter“
„Ahhhh…“
„Besser!“
„Ooohhhh…!“
„Sehr gut!“
Die Stimme des Mönches schallte durch das Laboratorium und durch die zerspringenden Fensterscheiben über die Wiese, wo Einhörner und Panzertiger gleichermaßen im Kampf innehielten und lauschten. Phönixe sammelten sich vor dem Fenster, und eine Gruppe struppig aussehender Gestalten, die an eine mittelalterliche Räuberbande erinnerten, warf Geldstücke durch die zerbrochenen Fenster in den Raum. Elfen umschwebten den singende Mönch und versprühten Goldstaub, während ein Wolpertinger sich heimlich mit einem dicken Buch unter dem Arm aus dem Labor schlich.
„Das ist er!“ dachte Qed glücklich, „das ist der Eine, mit dem ich Musikgeschichte schreiben werde!“

© 2003 by team fabula


Der Mönch in der Hütte - Gemalt von Carl Spitzweg

(C) 2008 - Alle Rechte vorbehalten

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