Die Wahrheit über den großen braunen Waldbär

Teil 1 - Martin Weiß - Prolog
Es war einmal ein großer brauner Waldbär, der wollte unbedingt Mensaner werden. Aber weil es für große braune Waldbären keine Intelligenztests gab, und er somit nicht beweisen konnte, daß er ein großer schlauer brauner Waldbär war, war das gar nicht so einfach!
Er fragte also seine Freundin, die Tigerente, um Rat. Die wußte auch nicht gleich weiter, und so baten sie noch den Frosch und den kleinen Hasen Baldrian um Hilfe, die gerade des Weges kamen.
Gemeinsam grübelten die vier Freunde, "Was kann man wohl tun, um den Mensanern zu beweisen, daß man klug genug ist, um einer von ihnen zu werden? Auch wenn es keinen Test für große braune Waldbären gibt."
"Vielleicht", sagte die Tigerente. "Vielleicht wenn man ein paar Aufgaben löst. Vielleicht so zehn Stück. Alle so sauschwer, daß kein Mensaner sie lösen kann. Nur der große braune Waldbär kann das. Vielleicht ändern sie dann ihre Satzung und nehmen auch große braune Waldbären auf."
"Hmmm. Das könnte klappen!", meinte der Frosch.
Und der kleine Hase Baldrian sagte: "Tolle Idee. Nur welche Aufgaben soll er lösen?"
Da kam zufällig gerade das kleine Schwein vorbei, und das wußte nun wirklich, was "sauschwer" bedeutet! Deshalb hatte es auch gleich eine tolle Idee:
"Du mußt...", sagte es zum großen braunen Waldbär, ...

Teil 2 - Wolfram Menzel
... folgende Aufgabe lösen, die wahrscheinlich noch kaum ein Mensaner angegangen ist, geschweige denn gelöst hätte:
Aus dem Bereich von 2 bis 99 nimmt man zwei Zahlen und bildet mit ihnen zum einen ein Produkt und zum anderen eine Summe. Nun teilt man das Produkt einem intelligenten Wesen (P) und die Summe (S) einem anderen intelligenten Wesen mit und fragt dann beide gemeinsam nach den ursprünglichen Zahlen. Daraufhin ergibt sich folgendes Gespräch der beiden:
P: Ich kann nicht sagen, woraus das Ergebnis entstanden ist.
S: Das wußte ich schon, daß du das nicht sagen kannst!
P: Ja, wenn das so ist, dann weiß ich die Zahlen jetzt!
S: Na, dann weiß ich sie jetzt auch.
Die Frage ist also: wie heißen die Zahlen?
Daraufhin ging der große braune Waldbär in Klausur und versuchte zunächst einmal, seinen kleinen Computer zu programmieren, um die möglichen Ergebnisse einzuschränken. Damit brachte er einige Zeit zu, es machte auch Spaß, aber es blieben immer noch so viele Zahlen übrig, daß damit kaum etwas zu machen war.
Da ging der große braune Waldbär in sich (auch auf die Gefahr hin, daß er dort niemanden antreffen würde). Nach ca. vierstündigem Grübeln schrie er laut: "Heureka!" Er hatte die Lösung gefunden. Nun mußte er noch alle seine Gedanken richtig ordnen. Dabei kam er darauf, daß die Beschränkung auf den Bereich von 2 bis 99 eigentlich überflüssig war. Dann bat er die Tigerente, den Frosch, den Hasen und das kleine Schwein zu sich und trug ihnen seine Gedanken vor.
So schlau, wie der große braune Waldbär war aber nur das Schwein annähernd. Die anderen stiegen schon vorher aus. Als aber alles vorgetragen war, sagte das kleine Schwein: "Hut ab, die Lösung allein war schon eine Meisterleistung, aber die Ergänzung mit dem Bereich ist genial!"
Jetzt kam nur noch die schwierige Frage, wie der große braune Waldbär den Mensanern sein Ergebnis vortragen mußte, sprach er doch nicht die Menschensprache.

Teil 3 - Manuela Kuhar
Vermaledeite Kehlkopfanatomie! Grmpf! Operation? Nein. Ein paar Menschen dazu bringen, Tieresperanto zu lernen? Sinnlos. Diese selbstgerechten, arroganten, egoistischen Menschen, die den Tieren jegliche Art von Denkvermögen absprechen, nur weil sie uns nicht verstehen, dachte der Bär verbittert. Blieb nur noch die winzig kleine Hoffnung, dass einige Menschen – besonders Mensaner natürlich – der Idee offen gegenüberstanden, daß Tiere eine – wenn auch andersartige – Intelligenz besaßen. Genau dieses lange und noch bedeutungsvollere Wörtchen "andersartig" war nun das Problem. Konnte es überhaupt eine "universelle" Sprache geben, ein Kommunikationssystem, das alle Unterschiede in Begriffen und Weltanschauungen von Tieren und Nichttieren überwand? Eines, das es den paar Milliarden oder so Chemiemüllhaufen, deren Zellkerninhalte sich ein wenig voneinander unterschieden, ermöglichte, sich wirklich tiefgehend gegenseitig zu verstehen? ( Äh, Augenblick, meldete sich das kleine grüne Männchen in seinem Ohr, wir sind jetzt mal ganz bescheiden und fangen erstmal mit zwei Chemiemüllhaufen an ...) Grübelgrübeldenkedenkeblaschwalllaberblubb.
In solch einem philosophischen Sumpf drohte der Bär nun zu versinken, der Depressionsschlamm zog ihn immer weiter hinunter... Da hatte nun ausnahmsweise der kleine Hase Baldrian eine ganz außergewöhnliche Idee. Die anderen konnten sich gerade noch vor den katastrophalsten Auswirkungen des nun folgenden Wortniagarafalls retten. Hier die gekürzte Version:
"Äh, meine Tochter Rizinusia... oder war‘s meine Nichte? Oder meine Tante? Egal, jedenfalls wohnt sie bei einer netten Familie in Untermiete (Untermiete! dachte der Bär verbittert. Nur ein Eukalyptus, äh Euphemismus für Gefängnis... wie können sich manche Leute das nur antun lassen!), und letztens hat sie mir durch den Gartenzaun erzählt, dass ihr aufgefallen ist, dass einer der kleineren weiblichen Menschen in dem Haus niemals irgendwelche Laute von sich gibt; sie scheint sich nur durch Hand- und Fußzeichen mit den anderen zu verständigen!" Baldrian hüpfte aufgeregt auf einem Baumstumpf im Kreis herum, und verlieh sich so das exotische (?) Flair eines irren Intellektuellen – "Das wäre doch die Lösung! Zeichensprache! Die ultimative Möglichkeit, genetische Barrieren niederzureißen! Habt ihr schon gehört, da gibt es so ein paar Schimpansen, die haben schon erfolgreiche Zeichensprachexperimente mit Menschen gemacht! ...,...."
Langsam durchdrang die tiefgreifende Bedeutung dieser Worte den Sumpf, der den Bär gerade genüßlich verschlingen wollte; das Schwein zog ihn daraufhin an seinem nicht existenten Zopf heraus (Grmpf, sagte der Sumpf, schon wieder ein Mittagessen entwischt), indem es sagte: "Das ist es! Das ist die Chance! Vielleicht kannst du ein wenig dazu beitragen, daß die Menschen das wahre Potential von uns nichtmenschlichen Lebensformen erkennen, daß sie uns in Zukunft respektieren und unseren Artgenossen – besonders meinen – endlich ein tierwürdiges Leben ermöglichen!"
"Du bist der Auserwählte, auf den die ganze Tierwelt gewartet hat! Du mußt deinen gottgegebenen Auftrag ausführen!" kreischte Baldrian in Ekstase.
Der Bär war vollkommen perplex. Hilfe, ich wollte doch eigentlich nur Mensa-Mitglied werden, und jetzt soll ich sozusagen als Botschafter für die Interessen der ganzen Tierwelt eintreten?!?!?!
Hmmm, eigentlich gar keine schlechte Idee...
"Äh," machte der Bär, und noch ein paarmal "Äh". Dann zwang er sich, systematisch zu denken und anzufangen, eine Strategie zu entwickeln. Schließlich konnte er sich zu einem mehr oder weniger sinnvollen Satz durchringen: "Jetzt kommt mal wieder runter aus Wolke sieben. Wie habt ihr euch das denn gedacht, soll ich einfach in das Haus reinspazieren und sagen ‚hallo hier bin ich, ich würde gerne Zeichensprache lernen‘? Die Menschen haben doch bestimmt Angst vor mir!"
Betretenes Schweigen.

Teil 4 - Stephan Meyer
Der kleine Hase Baldrian rümpfte drei-, vier- mal sein Schnuppernäschen, dann hatte er plötzlich so ein gewisses Glitzern in den Augen. "Ooh," sagte die Tigerente zu Baldrian. "Ooh! Ich weiß, was dieses Glitzern bedeutet! Du hast wieder eine Idee! Erzähl!" Die Tigerente wurde so aufgeregt, daß sich ihre Tigerstreifen kräuselten. Auch dem kleinen Schwan schwante, daß jetzt eine gute Idee kommen würde. Und so ließ sich der kleine Hase nicht lange bitten:
Er wäre früher mal in der nahegelegenen Menschen-Siedlung in den nächsten Garten gehoppelt und hätte dort ausbaldowert, so stellte Baldrian als echter Witzbold bald bildhaft den gespannten Zuhörern dar, wie man sich, nur mit einem Baldachin bekleidet, unter die geballte Menge an Gästen der Garten-Party mischen könne, natürlich unerkannt und ohne daß der Pitbull "Bill" bald bellt.
Gesagt - getan! Der Waldbär lief sofort in seine Bärenhöhle und riß den roten Baldachin von seinem Himmelbett. Dann rannte er zu Helge, dem Schneider, und ließ sich ein Gewand fertigen, das er sogleich anlegte. Helge verzierte den kostbaren Kimono noch mit einigen goldgelb glitzernden Punkten hier und dort. Schließlich setzte er dem Waldbären zur Krönung einen grünen gezackten Hut mit grünem, stielähnlichem Bömmel auf.
"Ooh, großer Waldbär," sagte Helge, der natürlich wußte, daß der Waldbär gar nicht groß war, sondern eher klein. Kaum größer als eine Kirsche. Daß es dem Waldbären aber ungemein schmeichelte, wenn man ihn "großer Waldbär" nannte. Und daß man dann auch manchmal einen Löffel Honig abbekam. Vom "großen" Waldbären. Und Helge liebte Honig. "Ooh großer Waldbär," fuhr Helge fort, "jetzt bist du bestens getarnt!"
Und so schmuggelte sich der große braune Waldbär auf der Gartenparty unerkannt als Erdbär in die Erdbärbowle. Dort wartete er geduldig. Schließlich geschah das, was er sich so sehnlich erhofft hatte: Ein Mensch fischte ihn mit einer Kelle aus dem Bowlentopf und füllte ihn in ein Trinkglas. Der Mensch hieß übrigens Rudi Mente. Doch das Glas war nicht für ihn. Mit einem sympathischen Grinsen drehte sich Rudi wieder zu Anna Bolika um, drückte ihr das Glas in die Hand, strich ihr sanft durch das Haar und fuhr mit seiner Erzählung fort. "Möööönsch," dachte sich der Waldbär, "das fängt ja richtig gut an. Wenn ich die beiden heute abend im Auge behalte, erfahre ich alles, was ich wissen muß!"

Teil 5 - Jan Sieckmann
"... Mann, Anna! Meine Kiste hat momentan die Mega-MLD-Vernetzung ... Mädel, das baue ich bei Dir 'mal ein, Mords-Oschi, so 'was. ... Marvin Minsky meint dazu ... und mein Vater Ali ... ". Mehr und mehr kam Mente mächtig in Fahrt. 'Männer wie der - die wissen mehr! Manch mysteriöses Rätsel mag der gemacht und gemeistert haben.', mutmaßte unser Minibär, der als Intelligenz-Bärstie selbstredend mittendrin verstanden hatte, was Menschen meinen.
Es erschien Anna, als ob sich hier ein erlesener Ehegatte ergäbe. Eine eifrige, erfahrene Hand nahe Rudis Einzelteil erhob sich etwas. - Ernstlich beeindruckt war ebenfalls unser Erd-Bärchen. - "... Epiloge sind eigentlich am Ende ... erst einmal habe ich Esperanto, darauf Edo-Wolof, dann Eifelplatt gelernt, im letzten Semester, ... " - 'Eifelplatt! Einem solchen Eleven könnte man auch die elementare Zeichensprache erklären', entwickelte sich ein Bärengedanke.Nach dreizehnminütigem Monolog über die Nichtigkeit von Ananas einschließlich Nebenbemerkungen über die neuentdeckte Bierdeckel-Gestalt des Alls glitt es Rudi nebenbei heraus: "... na, neulich, beim Mensa-Stammti.., äh, nein ... in der Nassestraßen-Mensa natürlich ..."
Sogleich setzte Anna sehr sachte ein: "Soso, einer von diesen sogenannten Superschlauen bist Du also?" - Sämtliches Sermonieren Rudis sedimentierte sich zu sofortiger Stille. 'Sicher seine Bescheidenheit', sinnierte das Bärchen, 'so wie ein echter Mensaner eben'. Seit seinem Entschluß, Mensaner in corpore sano zu erfahren, war unser Waldbär zum ersten Mal wieder sehr glücklich, sogar seine Schnauzenhärchen zitterten vor Freude, und er gönnte sich selbst einige Schlückchen der süffigen Bowle um ihn herum.
Anna, aufmerksam und agil, wollte unterdessen die Situation retten. Achtsam schaltete sie ihr allgemeines Lächeln (N° 4) an. Auf alle Fälle galt es diese Anspannung aufzulösen. An der fruchtigen Bowle schlürfen, vielleicht? - Allerdings folgte darauf ihr lautes "Autsch! Angenagt hat man mich, Rudi, Hilfe!" - Ach, unser Waldbär sprang jetzt ganz schnell abwärts - zu seinen Alt-Bonner Vettern, den albernen Gummibärchen, in deren Schälchen. ...-... Angehört hatte er erst einmal genug ...

Teil 6 - Günter Herzig
Von wegen genug gehört! Die Gummibären schnatterten aufgeregter als ein Dutzend Tigerenten.
Kunststück, inzwischen sahen sie in jedem Fremden ihren Erzfeind Thomas Telewitz in neuer Verkleidung. Dieser hochbezahlte Wüstling futterte täglich in aller Öffentlichkeit Dutzende Gummibärchen und forderte Millionen von Zuschauern zur Nachahmung auf.
Nur mühsam konnte unser Möchtegernmensaner den aufgescheuchten Gummibärhaufen beruhigen.
Für ihn waren jetzt erst einmal drei Fragen relevant:
1.) Wie kam er - immer noch als Erdbärgigolo verkleidet - schnellstens wieder zu seinen Freunden? Von den Gummikollegen durfte er keine problemorientierte Diskussion erwarten und schon gar nicht irgendwelche brauchbaren Ratschläge.
2.) Welche Schlüsse sind aus der Unterhaltung Rudi/Anna auf das menschliche Interagieren allgemein und auf die Kommunikation zwischen Mensanern und Nichtmensanern speziell zu ziehen?
3.) Hat das Gehörte tatsächlich brauchbare Hinweise auf künftige Möglichkeiten zur Tier-Mensch-Kommunikation geliefert?
Problem 1 löste sich Überraschend schnell. Eine dunkelgrün manikürte Hand grapschte in die Gummibären, um - im Dutzend billiger - dem zur Hand gehörenden Körper den nötigen Zuckerspiegel zurückzugeben. Unser Waldbär blieb mit hängen, wehrte sich wie bereits erprobt mit kräftigem Biß und wurde prompt mit einem kleinen spitzen Schrei abgeschüttelt. Er landete weich, im Nackenfell des schon erwähnten Pittbulls Bill, an einer Stelle also, an die der Kampfhund weder mit der Schnauze noch mit den Pfoten herankam. Natürlich wußte Bill, was man in solchen Fällen tat, um lästiges Ungeziefer (So nannte er unser Cleverle) loszuwerden. Am nahen Waldrand gab es Sträucher, an denen man sein Fell Stück für Stück juckreizbeseitigend abstreifen konnte.
Nun war unser Waldbär wieder dort wo er hingehört, im Wald. Schnell war der Beraterkreis versammelt. Unser Held erstattete Bericht und formulierte die Probleme.

Teil 7 - Alexander Prill
Betretenes Schweigen im Kreise seiner Freunde, selbst die Tigerente schnatterte nicht. Schließlich durchbrach der Frosch die peinliche Stille breitgrinsend: "Naja, wenigstens hast Du Problem 1 schon gelöst." Alle blickten ihn entgeistert an. Der Frosch, der nicht erkannte, eine unpassende Aussage gemacht zu haben, sondern glaubte, nicht verstanden worden zu sein, erklärte: "Isser nun hier oder nicht?" Als keine Reaktion der anderen erfolgte, fügte er nun schon etwas kleinlauter hinzu, "...da wird ihm auch noch zu den anderen beiden Problemen etwas einfallen."
"Genau so ist es, Frosch", befreite ihn der Waldbär, "zieht man die Schlüsse aus der Unterhaltung zwischen Rudi und Anna, dann sticht auch die Möglichkeit zur Tier-Mensch-Kommunikation ins Auge." "Auweh," bemerkte Baldrian, "das ist nun aber zu hoch für mich." "Du willst ja auch nicht Mensaner werden," konnte sich der Ohrenrassler nicht verkneifen.
"Keinen Streit, Freunde, laßt Euch meine Gedanken erklären und dann sagt mir, was Ihr davon haltet," begann der kleine "große" Waldbär, "manchmal führt nur ein kleiner Umweg zum Ziel, wenn der direkte Weg versperrt ist. Ich erinnere mich noch an Rudis Worte, als Anna ihn als sogenannten Superschlauen titulierte. Er versuchte sich zu verteidigen, indem er erwiderte, manchmal flüstere ihm der Mann im Ohr Dinge zu, die er bis dato selbst nicht verstanden hatte. ,Das ist es', dachte ich. Mein Motto war Mensaner in corpore sano. Beinahe wäre ich geschlürft worden, aber nicht der Mund, sondern das Ohr ist des Rätsels Lösung. Der Mann in Rudis Ohr muß sehr klein und daher kein Mensch sein. Gleichwohl versteht Rudi ihn. Darüber hinaus muß der Mann im Ohr ziemlich schlau sein, d.h. er könnte mich verstehen. Ich muß ihn unbedingt treffen, den Mann in Rudis Ohr!!"
"Wie willst Du jetzt in Rudis Ohr kommen," fragte Baldrian ruhig. – "Tja, das ist eine gute Frage ...."

Teil 8 - Birgit Brugger
"... deren Beantwortung einem wie Dir, wenn er Freunde wie uns hat, wohl nicht schwerfallen sollte." setzte die Tigerente hinzu. Man begab sich also gemeinsam zum nächstgelegenen Park&RideKnoten, einem romantischen Plätzchen direkt am Wald, wo Füchse und Hasen im Winter beim Schlittschuhlaufen und im Sommer beim Asphaltstockschiessen praktisch unter sich waren.
Im Telephonhäuschen dort fand sich Rudi, bzw sein Eintrag im –buch. Der Bär, zwischen den Seiten stehend, las laut die Adresse vor, die alle wiederholten. Alles weitere ging, wie Tigerente gesagt hatte, leicht. Stadt- und Busfahrplan wurden in nun schon erprobter Manier gelesen und memoriert, wobei sich Baldrian auf Tigerente stellte, um mit seinen Ohrenspitzen, wo der Waldbär sich festklammerte, noch näher an der Information zu sein.
Wie gerufen kam gerade da der Bus in die gewünschte Richtung. Die Formation der Freunde löste sich, im Bestreben, schnell zu sein, etwas ungeordnet auf. Hase fiel auf Bär, Ente auf Hase, so dass am Ende wohl der Bär, aber ausser ihm niemand mehr in den Bus springen konnte. Der Chauffeur bemerkte ihn nicht.
Der Bär, inzwischen ja schon weitgereist und entspannter als früher, sparte sich also das Geld fürs Ticket. In der Gewissheit, unbemerkt zu bleiben, führte er sich sogar recht kindisch auf, lief den Gang rauf und runter, legte die Pfoten auf den Sitz und sang. All das ungestraft, und stieg dann an der richtigen Haltestelle aus.
Der Aufprall im Rinnstein war weniger erhebend, aber er wusste auch das zu nehmen.
Rudis Haus, die Briefklappe, dafür am Ende der Reise für den nun erschöpften Möchtegernmensaner ein weiches Kissen im Bett des Menschen.
Als es Abend wurde, weckte ihn eine gewaltige Erschütterung, die ihn erst in die Luft warf und gleich darauf unter der Decke begrub. Rudi war heimgekommen und hatte sich, selber müde, recht hart auf das Bett geworfen. Bis der Bär sich wieder freigekämpft und ausgegraben hatte, schlief der Riese schon, was die Sache viel einfacher machte.
Vorsichtig-vorsichtig kletterte der Bär über den halben Kopf (denn das andere Ohr war tief ins Kissen versenkt) in das linke Ohr des Menschen. Einmal oben, stemmte er sich unter das knorpelige Flügelchen, das diesen Gehörgang schützte, und sah hinunter.
Finster war es da, und er hörte eine Stimme zornig und sehr schnell sprechen.
"Ja, er hat schon wieder... alles, was nicht angenagelt war, meine Papiere, wirklich: alles!... hingeworfen, sage ich... und das zum Feierabend!"
Der Bär verstand, dass jemand ziemlich verärgert war, und als die Stimme, stetig schimpfend, im dunklen Tunnel auf ihn zugekrochen kam, sah er, dass der verdächtig stille Gesprächspartner ein Mobiltelephon war. Die Stimme selber war im Licht als mitteljunger Winzling in Jeans und einer beträchtlichen Wampe unter dem Hemd zu sehen. Der Bär hatte, zurückweichend, geschwiegen und sich auf eine Falte im Ohr gesetzt, bis eine Pause eintrat, die er für sich nutzen wollte.

Teil 9 - Holger Hüttemann
"...so ein IDIOT von einem Zweibeiner !!! - Mach's gut und vielen Dank für den Babelfisch, wir sprechen uns morgen wieder." - Rummms. Mit einem (relativ) lauten Aufprall landete das Handy auf einem kleinen Tisch, der dem Inhaber der Stimme als Ablageplatz für alles zu dienen schien. Zur Absicherung gegen heftige Kopfbewegungen Rudis war die Platte auf einer Kugel gelagert, die in einem Becken schwamm, das mit einer ölig-grünen Flüssigkeit gefüllt war, die im Magen unseres Helden eher mulmige Gefühle auslöste.
"Hallo!" rief der kleine große Waldbär in die Öffnung, und beinahe hätte der Winzling vor Schreck die Kugel aus dem Becken geschleudert, so laut schallte das Echo von Rudis Trommelfell zurück: "Haaaaalllloooooooohhhh!!!!!!!" – "Was fällt Dir denn ein?!?" schrie der Wicht empört. "Beinahe hätte ich meine kostbare Tischkugel aus dem Schmalzbad gestoßen!!! - Wohl noch nie in einem Ohr gewesen, was?!? - Aber gleich große Töne spucken, wie?!? - Typisch Mensaner!!!"
Unser kleiner großer Waldbär war einerseits natürlich furchtbar zerknirscht, fühlte sich andererseits aber ebenso stolz wie hoffnungsfroh, als "Mensaner" bezeichnet zu werden. Er begann sofort, den Zeternden mit ein paar Tropfen seines 1a-Waldbären-Auslese-Extra-Honigs zu besänftigen. Die erhoffte therapeutische Wirkung ließ denn auch nicht allzu lange auf sich warten:
"Mmmmmhh, lecker (schlabber), ist ja deliziös (schmatz), oooooohhhhhhhh (rülps)" waren für die nächsten Minuten die einzigen Geräusche in Rudis Ohr. "Hast Du noch mehr von diesem herrlichen Zeugs?" fragte der Winzling schließlich, als der Waldbär nach dem siebten Löffel aus Rücksicht auf den ohnehin schon beträchtlichen Leibesumfang des Ohrbewohners mit dem Nachschub innehielt. Natürlich witterte der schlaue Bär sofort seine Chance: "Wenn Du mir ein paar kleine Fräglein beantworten magst, so sollst Du einen ganzen Topf voll davon Dein eigen nennen dürfen," flüsterte er in nun an die innerohrlichen Verhältnisse angepaßter Lautstärke.
Nachdem eine nicht unbeträchtliche Menge des edlen Stoffes in den schier unergründlichen Tiefen des Rachens dieses Winzlinges verschwunden war, kannte unser Held nicht nur dessen Namen, Senam, sondern auch das bestgehütete Geheimnis aller Mensaner:
Jeder Mensaner hat nämlich so einen kleinen Wicht im Ohr, der in Momenten hochnotpeinlicher Unwissenheit sofort mit klugen Tips bereit steht. Dafür müssen die Möchtegernintelligenzbärstien allerdings geloben, Säuberungsaktionen im auditorischen Außenbezirk auf ein absolutes Mindestmaß zu beschränken, da das Schmalz den Ur-Ohreinwohnem als Lebenselixier dient.
"Aha", dachte sich der Waldbär, als er das hörte, "jetzt weiß ich endlich auch, warum scheinbar kluge Menschen so oft schlechte Zuhörer sind. Die müssen zu oft ihren Wichteln Schmalz geben, um sie während der ununterbrochenen Beratungsarbeit bei Laune zu halten."
Doch auch diese Schlau- (besser: Schmalz-)berger sind für sich alleine noch nicht schlau genug, die schwierigen Fragen eines Mensatests zu lösen. Das können nämlich nur kleine große Waldbären. Und von denen gibt es nur ganz, ganz wenige. Nein, die volle Intelligenz der Ohrwichtel entsteht durch ihr Kommunikationssystem, das ihnen einen ständigen globalen Gedankenaustausch erlaubt. Nun darf man sich aber nicht vorstellen, dieses würde mit solch altertümlichen Gerätschaften wie Mobiltelefonen funktionieren. Das ist nur eine Liebhaberei von Senam, eine Reminiszenz an die guten alten Zeiten, als man den dauernd quäkenden global-mentalen Übertragungskanal noch ausschalten konnte.
"Tja, was tun?" sprach der kleine Waldbär, nachdem Senam endgültig begonnen hatte, seinen Honigrausch auszuschlafen. Kurz überlegte er, das nächste Treffen von Rudi Mente und Anna Bolika dazu auszunutzen, sich in Annas Ohr als Wicht einzunisten. Dann wäre er zwar nicht namentlich Mensamitglied, säße aber direkt an der geheimen Pulsader von Mensa. Allerdings - war er dafür wirklich bereit, sein Leben inmitten einer schmalzgefüllten dunklen Röhre an einem Kugeltisch zu verbringen?

Teil 10 - Ursula Merten - Epilog
Allerdings..., die Einflußmöglichkeiten waren natürlich enorm. Also beschloß der große braune Waldbär, einfach die nächste Chance zu nutzen, sich in das Ohr eines Mensaners oder Möchtegernmensaners zu schleichen. Wenn’s ihm nicht gefiel, konnte er ja immer noch nach einer anderen Lösung suchen – mit der geballten Intelligenz des interwichteligen Kommunikationsnetzes und der wenigen anderen brauen Waldbären. Eines Tages kann dann bestimmt auch so ein brauner Waldbär Mensamitglied werden!
Der große braune Waldbär blieb folglich in Rudis Ohr, bis sich dieser zum nächsten Mensa-Treffen begab. Dies war ausgerechnet der Stammtisch, und Senam erklärte dem Bären, daß dies die beste Gelegenheit sei, viele Mensaner und Interessenten am Verein zu treffen. Endlich kam die große Stunde, und Rudi ging zum Stammtisch. Der große braune Waldbär war schon ganz aufgeregt und konnte sich kaum noch ruhig in Rudis Ohr halten. Da Rudi insgeheim hoffte, Anna Bolika zu treffen, jetzt, wo sie doch schon von seiner Mensamitgliedschaft wußte, war er extra früh zum Stammtisch gekommen. Es waren jedoch noch nicht so viele Leute da, aber immerhin der mensanische Geschäftsstellenleiter saß bereits am Tisch. Rudi setzte sich neben ihn, und sofort begannen sie eine anregende Unterhaltung über Computer und Geschicklichkeitsspiele. Unser Bär war jedenfalls enttäuscht. "Nur ein anderer Mensaner!" rief er zu Senam. "Naja, pünktlich sind sie halt nicht..." brummelte der zurück. "He, paß auf, daß Du nicht rausfällst!" Der große braune Waldbär hatte sich so weit wie möglich aus Rudis Ohr herausgelehnt, und wartete sehnsüchtig auf weitere potentielle Wirte. Schließlich wollte er es auch nett haben! Schon machte er sich auf, um unauffällig Rudis Haare heraufzukrabbeln. In diesem Moment kam Anna hinein. Rudis Kopf ruckte zur Tür... und der kleine, große braune Waldbär konnte sich nicht mehr halten und wurde auf den Geschäftsstellenleiter aller Mensaner geschleudert. Dort blieb er und merkte schnell, welche großen Möglichkeiten sich ihm im Ohr des Geschäftsstellenleiters von Mensa boten!
Und wenn der große braune Waldbär nicht gestorben ist, so nimmt er noch heute Einfluß auf die mensanische Welt.
Ja, so war das damals. Deshalb gab es irgendwann große braune Waldbären in Mitgliederverzeichnissen, in der Mensa-Mailboggs und in vielen Mensa-Gesprächen. Denn unser Waldbär wollte nicht anonym bleiben wie die Wichtel! Er hat sich einen Namen bei Mensa gemacht, auch wenn bis heute niemand so genau weiß, wer oder was er wirklich ist. Viele halten ihn immer noch für ein Phantom, aber wir wissen ja nun, daß es den großen braunen Waldbären tatsächlich gibt.

© 2000 by team fabula


Da! Ein Kaninchen! - Gemalt von Andrea Mantegna

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