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Das Gasthaus im Wald

Teil 1 - Olaf Brill
Das Gasthaus mit dem verhexten Zimmer lag mitten im Wald. Eine einzige Straße führte in den Wald hinein und wieder heraus, und nur ein altes Hinweisschild versprach eine Herberge. Da ich müde von der langen Reise war und trübe Wolken den Himmel überzogen, schaltete ich das Licht ein und folgte der huckligen Straße. Als ich schon begann, die Idee, hier ein Bett zu suchen, für unwirklich zu halten, fand ich das Gasthaus.
Es war ein zeitloser grauer Klotz, größer als erwartet. Froh, eine Station für die nächsten Tage gefunden zu haben, parkte ich den VW vor dem Gebäude, schulterte meinen Rucksack und betrat die Empfangshalle. Zu meiner Überraschung herrschte hier reger Betrieb. Im Stehen unterhielten sich drei ausgehfertige Herren mit Abraham-Lincoln-Bärten. Eine alte Lady in schwarz, die so aussah, als käme sie aus einem anderen Jahrhundert, saß auf einem Sofa und ließ sich von mehreren Dienern in Turbanen umwimmeln. Einige militärisch aussehende Typen führten anscheinend eine strategische Diskussion. Und an der Rezeption empfing mich ein dünn lächelnder Hüne im grauen Anzug. Er musterte mich aufmerksam, und sagte dann: “Schön, dass Sie kommen konnten.” - “Ich bin froh, dass ich Sie gefunden habe. Ist noch ein Zimmer frei?”
Er wog den Schlüssel, den er schon in der Hand hatte, und gab mir dann einen anderen. “Sie können Zimmer Nr. 9 nehmen, bitte sehr!” Hatte er etwa jemand anders erwartet? Ich war zu müde, über solche Fragen nachzudenken, trug mich ins Buch ein, nahm den Schlüssel und mein Gepäck, winkte lässig mit der Hand, und spazierte in Richtung Treppe. Einer der Lincolns lüftete den Zylinder zum Gruße. Ich tippte mit zwei Fingern an eine imaginäre Mütze und ging hoch zu Zimmer Nr. 9. Ohne mich auszuziehen fiel ich auf das Bett und versank in einen traumlosen Schlaf.
Währenddessen zogen sich die schwarzen Wolken zu einem grummelnden Unwetter zusammen. Nicht mehr lange, und es blitzte und krachte. Es war eine Stunde nach Mitternacht, mittlerweile ging draußen gleichmäßig prasselnder Regen auf den Wald nieder, da hörte ich den Schrei. Ein heller, lauter Schrei, der dann plötzlich abbrach. Er kam aus dem Nachbarraum, Zimmer Nr. 10.

Teil 2 - Klaus Grünewald
Ich saß hellwach im Bett und lauschte in die Dunkelheit. Außer dem Flattern der Gardine, deren Falten im Wind gegeneinander schlugen, war nichts mehr zu hören. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass Fenster aufgemacht zu haben. Als ich vorsichtig meine Zimmertür öffnete, standen die drei Lincolns im Flur und drückten riesige Stethoskope an die Wand von Zimmer Nr. 10. Sobald sie mich erblickten, stahlen sie sich in kleinen Trippelschritten von der Wand und ließen währenddessen die Stethoskope in ihren Fracktaschen verschwinden.
“Meine Herren”, diese Anrede schien mir bei drei ehemaligen Präsidenten irgendwie passend, “was war das eben gerade für ein Schrei?” “Schrei?” mit hochgezogenen Augenbrauen sah mich Lincoln Nr. 1 an. Nummer 2 trat einen Schritt vor und meinte: “Ich würde nicht behaupten, einen Schrei gehört zu haben.” Dabei sah er Nummer 3 an. “Einen Schrei, wie interessant.” Er hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt und sah mich wie einen Patienten an, der an einer ansteckenden Krankheit litt.
“Ja, einen Schrei,” erwiderte ich aufgebracht. “Er kam aus diesem Zimmer!” Wütend deutete ich auf die Zimmertür von Zimmer Nr. 10.
Doch es gab keine Tür mehr. Dort, wo vorhin noch eine dicke Holztür mit schweren Messingbeschlägen in die Mauer eingelassen war, gab es jetzt nichts außer einer glatt verputzten Wand. Ich konnte mich jedoch noch sehr gut an die goldenen Zahlen erinnern; eine 1 und eine 0. Es war die einzige Tür, die goldene Ziffern trug. Nummer 3 kam näher und sah die leere Wand an. “Ein Zimmer, wie interessant.” “Ich würde nicht behaupten, dass sich dort ein Zimmer befindet.” Lincoln Nr. 2 sah mich dabei entschuldigend an. Ich begriff nichts mehr. “Aber, vorhin war hier doch... .” “Mein Herr”, Lincoln Nr.1 nahm mich am Arm, “sie haben schlecht geschlafen und wahrscheinlich nur geträumt. Wir waren doch auch hier. Und wir haben nichts gehört.” Er sah die anderen beiden Lincolns an. “Nein, nein”, sagten sie fast gleichzeitig. “Nichts.” Verwirrt murmelte ich: “Und ihre Stethoskope?”
In dem Moment ging im hinteren Teil des Ganges auf einmal eine Tür auf und die alte Lady in schwarz wurde von dem Hünen, der mich an der Rezeption bedient hatte, aus dem Zimmer getragen. Auf der Tür, das konnte ich gerade noch sehen, standen zwei goldene Zahlen: eine 1 und eine 0.

Teil 3 - Alexander Herges
“Moment mal”, dachte ich so bei mir, “was läuft denn hier für ein Film?” Ich drehte mich wieder zu den drei Lincolns hin, aber sie waren nicht mehr da! Verwirrt blickte ich wieder den Gang hinunter. Die Tür des Zimmers war wieder zugefallen. Ich ging hin, um mir das mal genauer anzusehen. Als ich vor der Tür stand, sah ich nur eine schwarze 8. Dabei hätte ich doch geschworen,...
Ich schüttelte den Kopf und ging wieder zurück in mein Zimmer. Als ich wieder in meinem Bett lag, dachte ich noch mal über das nach, was da gerade geschehen war. Ich fragte mich, ob Lincoln Nr. 1 Recht gehabt hatte. Hatte ich das nur geträumt? Gab es keinen Schrei und lag ich nicht vielleicht noch im Bett und hatte nur den dämlichsten Traum seit langem? “Nein, das kann nicht sein!” schalt ich mich selber einen Narren. Und nur, um es mir selber zu beweisen, zwickte ich mich selber in den Unterarm. “Autsch!” entfuhr es mir. Ich sah hin: Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, hatte ich mich wohl ein bisschen heftig gezwickt, ich blutete leicht. Mit leisen Verwünschungen ging ich zu meinem Rucksack, nahm mir ein Pflaster und legte mich dann wieder hin. Meine letzten Gedanken galten noch meinem VW, den ich wohl gestern etwas zu lange gefahren sein muss, bevor ich in einen nun traumlosen Schlaf fiel.
Gegen 8 Uhr 20 erwachte ich. Seltsamerweise war ich sehr erfrischt. Ich fühlte mich, als hätte ich 12 Stunden oder mehr geschlafen. Aber beim Waschen fiel mein Blick auf meinen Unterarm und ich sah das Pflaster. Sofort erinnerte ich mich wieder an die vergangene Nacht. Mir fielen alle Details sofort wieder ein, die Lincolns, die Stethoskope, und vor allem dieses seltsame Zimmer Nr. 10, wo auch immer es sich befand. Nein, das konnte unmöglich ein Traum gewesen sein. Den Schrei hatte ich eindeutig aus dem Zimmer gegenüber gehört, und auch die Zahl gesehen. Danach hatte dieser Kerl von der Rezeption die alte Dame aus dem Zimmer Nr. 10 weiter den Gang runter getragen. Aber in beiden Fällen fand ich das Zimmer nicht, zumindest nicht mit der Nummer auf der Tür. Das ließ mir irgendwie keine Ruhe. Was mir allerdings ebenfalls keine Ruhe ließ, war mein Magen. Der knurrte nämlich gewaltig und erinnerte mich daran, jetzt endlich frühstücken zu gehen. Ich zog mich also um, und verließ meinen Raum. Als ich die Tür abschließen wollte, glitt mein Blick nach oben. Etwa in Augenhöhe befanden sich zwei goldene Zahlen: eine 1 und eine 0.

Teil 4 - Edith Jeske
Ich strich mit dem Finger darüber und drückte ein wenig dagegen. Die Null verschob sich! Auch die 1 saß nicht fest auf der Tür.
Auf Zehenspitzen pirschte ich mich an das Ende des Flurs, zu Tür Nummer 8. Es erstaunte mich kaum noch, als auch diese Ziffer sich lösen ließ. Auf einer weiteren Tür fand ich meine Zimmernummer: die 9.
So war das also. Nur: warum?
Ich klopfte die Wand ab - dort, wo ich die Tür Nummer 10 hatte verschwinden sehen. Es gab einen kaum sichtbaren senkrechten Riss in der verputzten Wand, und an der Fußleiste entlang eine dünne Linie von Gipsstaub.
Ich klopfte an die Wand. Es klang hohl.
Ohne noch hungrig zu sein, begab ich mich in den Frühstücksraum, wo sich am Fenstertisch die drei Lincolns niedergelassen hatten. Ich grüßte höflich und ließ mir von der Kellnerin zwei Eier im Glas bringen. "Notieren Sie es bitte auf die Rechnung von Zimmer 10", sagte ich - so laut, dass die drei Bärtigen es hören mussten.
Sie ließen mich nicht aus den Augen.
"Tee oder Kaffee?" fragte die Kellnerin. Ich bestellte Tee, der mir in Form eines Glases Heißwasser und eines Teebeutels gebracht wurde. Den Teebeutel ließ ich in meine Tasche gleiten. Vom heißen Wasser ließ ich ein wenig auf den Unterteller schwappen und tupfte es mit der Serviette auf, bevor ich auch diese in meiner Tasche verschwinden ließ.
Mir dämmerte etwas.

Teil 5 - Dieter Lindemann
Ich musste schnell handeln. Aber auch unauffällig. Ich klaubte ein Ei aus dem Glas, klopfte drei Mal mit dem Löffel auf weiße Schale, behielt die Lincolns im Auge, registrierte, wie vier Turban-Männer den Tisch am Eingang in Beschlag nahmen.
"Monsieur, dürfte isch misch zu Ihnen setzen?"
Erschrocken fuhr ich herum. Die Stimme klang seltsam glasig, seltsam kalt und vibrationslos. Der französische Akzent wirkte aufgesetzt. Die schwarze Lady stand hinter mir, starrte mich mit tiefen dunklen Augen an. Ich erhob mich schaudernd, rückte ihr einen Stuhl zurecht. "Selbstverständlich! Ist mir eine Ehre!"
Sie nahm Platz. "Isch frühstücke ungern allein!" Eine Stimme ohne Leben. Jetzt fror ich. Die Kellnerin kam. "Kaffee, Madame?"
"Meine Liebste, wie immer, bien sûr," die Lady kramte ein Päckchen Gauloises und ein Feuerzeug aus ihrer schwarzen ledernen Handtasche, legte alles vor sich auf den Tisch, musterte mein wahrlich nicht üppiges Frühstück, um dann ihre Bestellung zu korrigieren: "Warte, ma belle, non non, kein Kaffee, ´eute lieber Tee!"
Ich zuckte zusammen. War mein Plan durchschaut? Instinktiv hob ich das Teeglas und nippte am heißen Wasser. "Zu wenig gezogen!" erklärte ich verunsichert. Sie lächelte. Jedenfalls deutete ich ihr unbeholfenes Lippenspiel als Lächeln.
Thema wechseln!, befahl ich mir. "Freut mich, dass es Ihnen besser geht!"
Die Kellnerin servierte.
"Kein Wunder, isch ´abe fantastisch geschlafen," sagte die Schwarze. Ich fröstelte, obwohl sie hörbar versuchte, ihrer Stimme Ausdruck und Wärme zu geben.
"Merci, très bien!" Worte wie Eiszapfen. Die Kellnerin zog ab. Am Fenstertisch wurde es lauter. Stritten sich die Bärtigen? Mein Gefühl, beobachtet zu werden, wich. Jetzt oder nie! Ich bot meiner dunklen Tischgesellin hastig mein zweites Ei an, "denn leider muss ich Sie schon verlassen!", und erhob mich."C´est dommage!" sagte sie, es klang fast ehrlich bedauernd. Ich zitterte. Sie griff nicht nach dem Ei. Sie griff nach ihrem Teebeutel und ließ ihn wie unbeabsichtigt in die schwarze Handtasche fallen.

Teil 6 - Andreas C. Matthiessen
Ich tat, als ginge ich kurz in den Waschraum, aber ich hatte etwas anderes vor. Meinen Autoschlüssel hatte ich bei mir, der Rucksack im Zimmer enthielt nichts Wertvolles. Etwas Bekleidung und das übliche Waschzeug. Ich wollte unbedingt vermeiden noch einmal auf mein Zimmer zu gehen, ich wollte nur noch weg hier. Wer weiß, was mich auf dem Zimmer inzwischen erwartete; ich hatte so viele schlechte Kriminalromane gelesen, dass ich mir im Grunde wie ein männliches Pendant zu Miss Marple vorkam. Der Waschraum hatte ein Fenster zum Parkplatz, - es war nicht verklemmt und vor dem Fenster saßen auch keine blutrünstigen Hunde die wochenlang nicht gefüttert wurden. Ich gelangte auf diese Weise zu meinem Auto, startete den Motor und raste mit durchdrehenden Rädern vom Parkplatz. Der Waldweg war durch den nächtlichen Dauerregen unglaublich matschig und die mit Wasser gefüllten Schlaglöcher ließen die Federbeine meines Golf an die Belastungsgrenze stoßen. Doch der Wagen blieb Dank des Frontantriebs nicht stecken und nach kurzer Zeit erreichte ich die Landstraße. Ich raste wie ein jugendlicher Discobesucher in das nächste Dorf, das schon eine eigene Polizeiwache besaß.
Auf dem Revier erzählte ich meine Erlebnisse einem jungen Beamten, der im Verlauf der Geschichte einen älteren Kollegen hinzu rief.
„Sie kamen also Donnerstag in den Abendstunden dort an und übernachteten einmal. Mitten in der Nacht wurden Sie durch den Schrei geweckt und schliefen dann nach erfolgloser Suche wieder ein. Dann flüchteten Sie während des Frühstücks aus der Herberge. - Mann, Sie sind ja ein Zechpreller - „
Ich sah im ungläubig in seine Augen.
„Kleiner Scherz, also weiter im Geschehen. Demnach müsste heute Freitag sein, wir haben aber inzwischen Samstag. Sie haben einen Tag verloren, - in einem Haus, das seit acht Jahren unbewohnt ist.“
Vor mir begann sich die Welt zu drehen, ich brauchte einen Stuhl.
„Mann, Sie sind ja kreideweiß, ist Ihnen schlecht ? Brauchen Sie einen Arzt ?“
Der ältere war sehr freundlich, er stützte mich mit erstaunlicher Kraft und führte mich ans Fenster. Die frische Luft tat mir gut.
„Wenn Sie sich wieder besser fühlen, fahren wir mit Ihnen dorthin zurück und besichtigen das Haus. Trauen Sie sich das zu ? In der Zwischenzeit schicken wir den Teebeutel in das Polizeilabor. Mal sehen, ob da mehr als Tee drinnen ist.“
„Ja, es geht schon wieder. Ich glaube, das ist eine gute Idee.“
„OK . Hans, wir nehmen den Geländewagen und nimm noch den Hund mit. Es kann nicht schaden, wenn er für sein Polizei-Chappi auch mal was tut.“
Fünf Minuten später fuhren wir in einem Mercedes Geländewagen zurück.

Teil 7 - Stephan Meyer
Ich konnte meine Neugier nicht länger zurückhalten: „Sie sagten, das Haus sei seit acht Jahren unbewohnt. Wer wohnte denn vorher darin?“ Hans, der am Steuer saß, wandte sich an seinen älteren Kollegen: „Das müsstest du eigentlich besser wissen, Roland. Du lebst ja schon länger hier.“
Roland nickte bedächtig: „Die ältesten Dorfbewohner erzählen sich noch heute von der geheimnisvollen Witwe. Mit der fing wohl alles an. Das heißt, als sie einzog, da war sie noch gar keine Witwe. Ihr Mann war öfters beruflich in Übersee und hatte von einer seiner Aufenthalte ein paar Diener mitgebracht. Von einem Tag auf den anderen, so erzählt man, habe sich die Dame nur noch schwarz gekleidet und allen anvertraut, ihr Mann sei bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Keiner weiß, was wirklich geschah.“
Ich fand, dass Hans für einen Polizisten ungewöhnlich energisch durch den Wald bretterte. Ich musste mich am Vordersitz fest halten, weil der Geländewagen sehr ins Schaukeln kam. Im Kontrast zu seiner Fahrweise warf Hans relativ gelangweilt ein: „Das mit der Witwe ist ja schon ewig her! Und wer hat danach dort gewohnt?“
Roland überlegte: „Das Haus hat erstaunlich häufig seine Besitzer gewechselt. Keiner hat es lange darin ausgehalten. Selbst als Militärstützpunkt wurde es nur vorübergehend genutzt. Zuletzt hat es ein ehemaliger Profiboxer erworben. Er betrieb darin ein Waldhotel, doch von seinen vielen Gästen ist niemand ein zweites Mal gekommen. So musste er das Projekt schließlich aufgeben. Seitdem steht das Haus leer.“
Ich wollte noch fragen, warum die Gäste nicht wiederkamen, da musste ich mich plötzlich mit aller Kraft gegen den Vordersitz stemmen, um mir nicht den Kopf zu stoßen. Der junge Polizist war ruckartig auf die Bremse getreten. Das Auto schlidderte noch kurz durch den Matsch bis es stehen blieb. „Da wären wir“, grinste Hans.
Das Haus sah von außen tatsächlich verlassen aus. Ich war enttäuscht. Während wir auf die Tür zugingen, raunte mir Hans zu: „So viel Buhei um eine alte Dame. Wahrscheinlich hatte sie bloß einen kleinen Vogel!“ Da piepste es auch schon, und zwar aus seiner Jacke. Hans holte sein Handy heraus, lauschte kurz und reichte es seinem älteren Kollegen: „Das Polizeilabor!“
„Hallo Roland, wir haben die Ergebnisse von dem Teebeutel, den ihr gestern geschickt habt. Wir haben sie gleich zwei Mal überprüft, weil wir es nicht glauben…“
„Gestern?“ Der sonst so ruhige Roland verlor offenbar seine Contenance. Mit einem halb verwirrten, halb verzweifelten Gesichtsausdruck schrie er in das Handy, als ob es taub wäre: „Gestern? Was soll das heißen - gestern?“

Teil 8 - Almut Peters
Schlagartig sah ich bestätigt, was ich schon vermutet hatte: Das Geheimnis das Gasthauses hing mit dem Tee zusammen! Aber - wer hätte gedacht, dass schon ein einziger Beutel ...
Rolands Zustand war inzwischen in Hysterie umgeschlagen, denn die Verbindung zum Polizeilabor war ohne ersichtlichen Grund unvermittelt abgebrochen. Hektisch versuchte Hans das Handy wieder in Gang zu bringen, aber vergebens, es rührte sich nichts mehr. Zu allem Überfluss begann auch noch der Hund - ein Polizeihund! - fürchterlich zu jaulen und fast hätten wir in Panik das Weite gesucht, wenn nicht ... ja, wenn wir nicht vor Schreck erstarrt wären! Das Haus wirkte plötzlich belebt, Licht drang aus den Fenstern und Stimmen waren zuhören, die Eingangstür hatte sich geöffnet und in ihr war erschienen - die schwarze Lady!
"Willkommen, meine Herren! Ich habe Sie schon erwartet!" Der letzte Satz galt mir. Ihre seltsam glasige Stimme klang wie aus dem Jenseits zu uns herüber. "Das ist sie", flüsterte Roland erschüttert. "Meine Urgroßtante hat eine Fotografie von ihr besessen."
Die alte Dame selbst schien an der Situation nichts Besonderes zu finden, sie wirkte im Gegenteil erleichtert und bemerkte: "Ich hoffte nicht, Sie nach Ihrer überstürzten Abreise vorgestern" - VORGESTERN?? - "noch einmal wieder zu sehen, aber nachdem Ihr Zimmer heute Morgen wieder die Nummer 9 trug ..." - ich wurde fast ohnmächtig, das durfte doch nicht wahr sein! Die beiden Polizisten standen mit offenem Mund daneben und sagten also gar nichts mehr. Der Hund winselte.
"Sie werden mir helfen können, junger Mann", fuhr die Lady fort. "Sie wissen Bescheid über den Tee und wahrscheinlich ahnen Sie auch, was es mit dem Zimmer Nr.10 auf sich hat. Sie wären sonst nicht so plötzlich abgereist." Beklommen nickte ich. Ich hatte zwar nur eine Vermutung, wollte jetzt aber alles erfahren - ein Zurück schien es sowieso nicht mehr zu geben und so folgte ich der alten Dame ins Haus. Doch kaum hatten wir die Empfangshalle betreten, fing sie fürchterlich an zu zittern und sie drohte umzusinken. "Mon dieu!" hauchte sie. "Vielleicht ist es schon zu spät." Am Fuß der Treppe standen die drei Lincolns mit ihren riesigen Stethoskopen.

Teil 9 - Torsten Schmid
Viel mehr als einen Augenblick blieb uns nicht: Die Stethoskope richteten sich auf die kleine Gruppe der Neuangekommenen und verbreiteten schlagartig einen höllischen Lärm. Mir fuhr es eiskalt in die Glieder: Das war der Schrei, den ich in der Nacht meines ersten Besuchs im Nachbarzimmer gehört hatte. Die Tonhöhe war schrecklich - Roland, Hans und mir standen sämtliche Haare zu Berge, Chappis Winterfell eingeschlossen. Wie paralysiert standen wir vor dem Eingang des Hauses, die alte Dame hielt sich nur noch mühsam auf den Beinen, gestützt vom langen Grauen, während die Lincolns unbeirrt mit ihren Stethoskopen markerschütterndes Geschrei ausstießen.
Wir standen 1 Minute, 10 oder länger - ich hatte keine Erinnerung mehr. Unser Denken war gefüllt von quälendem Lärm: Wir waren Gefangene. Der Schrei steigerte noch seine Lautstärke und marterte erbarmungslos unsere Seele. Wie lange kann ein Mensch das aushalten, fragte ich mich? Langsam begann sich die Kulisse aufzulösen, ich sah das Haus nur noch verschwommen, die Personen traten in den Hintergrund und alles war wie von Nebel umflossen.
Meine Wahrnehmung fokussierte sich allein auf die drei übergroßen, dunkel gähnenden Öffnungen der Stethoskope. Unablässig trommelte der Puls des Schreis weiter, ich blickte immer tiefer in die sich jetzt nähernden, schwarzen Schlunde. Angst kroch in mir hoch, mir wurde sehr kalt, doch zur Flucht war es zu spät. Meine Hände krampften in den Hosentaschen und bekamen zitternd den Teebeutel vom vorletzten Frühstück zu fassen. In meiner Verzweiflung drückte ich zu, immer fester und fester.
Plötzlich spürte ich Wärme in meiner rechten Hand. Sanfte, gleichmäßige, angenehme Wärme, die sich langsam von der Innenfläche zu den Fingerspitzen ausdehnte. Was für ein Gefühl. Mein Verstand stand indes still, meine Wahrnehmung zog sich unter dem schmerzhaft pochenden Schrei zurück und ich dachte nur in mir: Drück zu, weiter, immer weiter! Die Wärme stieg jetzt meinen Unterarm aufwärts, erfasste meine Schulter und breitete sich langsam wellenförmig über den gesamten Oberkörper aus. Die Lincolns verschwanden gerade im Nebel - als mit einem Mal der Schrei erstarb.
Ein unbeschreibliches Gefühl des Friedens schwappte über mich. Aus der Ferne drangen fast unhörbar Geräusche zu mir. Es schien, als ob ich einen Vogelschwarm am anderen Ende der Erde hörte. Langsam nahm ich Umrisse eines Zimmers wahr, weiß getünchte Wände, ein Fernseher sehr weit oben auf einem wackligen Gestell montiert, ein paar frische Blumen auf dem kleinen Holztisch am Fenster, von blassgelben Gardinen nur halb verdunkelt.
Ich lag in einem großen, frisch bezogenen Bett. Neben mir beobachte eine Gruppe Ärzte in Begleitung des üblichen Pflegepersonals neugierig mein Erwachen.
"Hr. Frank, können Sie mich hören? Sind Sie ansprechbar?", fragte einer der Ärzte. Meine Augen wanderten langsam zu dem Sprecher, wortlos formte ich meine Lippen zu einem "Ja".
"Da haben Sie ja viel Glück gehabt. Vor drei Tagen hatten Sie einen Unfall mit Ihrem Wagen im Heimburger Wald, nicht weit von hier. Ein früher Wanderer fand Sie bewusstlos und leicht unterkühlt im Wagen, den Sie frontal vor eine dicke Eiche gesteuert hatten. Der Notarzt brachte Sie anschließend zu uns und seitdem versuchen wir, Ihren komatösen Zustand zu unterbrechen. Jetzt sind Sie wieder im Leben, Gratulation!"
Die Horde des medizinischen Personals verschwand langsam durch die zurückliegende Tür.
"Unter uns: Wir sind spät draufgekommen, aber lassen Sie in Zukunft die Finger von diesen psychodysleptischen Pilzen. Das Zeug verursacht nur schlechte Träume und fahrtüchtig sind Sie damit natürlich auch nicht mehr. Übrigens, der "Wanderer" war einer Ihrer Freunde, der diese Party organisiert hatte. Beim Katerfrühstück am nächsten Morgen hatte man Sie vermisst!"

© 2003 by team fabula

Abbildung: Die Alte hat einen im Tee - Gemalt von - Mary Cassatt