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Henning

Teil 1 - Oliver Klären
Um sieben Uhr morgens klingelte der Wecker. Es war wie an jedem Wochentag. Heute allerdings fiel es ihm besonders schwer, seinen Mißmut hierüber zu verbergen. Ein sanfter Schlag auf die Nachwecktaste gebot dem Lärmen zumindest vorläufig Einhalt.
Es war ein klarer Morgen im Frühsommer. Die Sonne kam gerade hinter den Hügeln hervor, und es versprach, ein wundervoller Tag zu werden. Als die ersten Strahlen sein Bett erreichten, vergrub Henning den Kopf unter dem Kissen. Wenn heute tatsächlich Montag war, mußte das ein fürchterliches Wochenende gewesen sein, dachte er. Was hat man bloß mit mir gemacht? Und erst mit meinem Schädel. Er versuchte, sich zu erinnern, doch seine Gedanken waren wie blockiert. Gleich würde der Wecker wieder losgehen - ihm grauste schon davor. Vorsichtig hob er das Kissen an und schielte nach der Uhr, konnte aber das Zifferblatt nicht einsehen. Seltsam, dachte er. Sonst stand sie immer anders herum.
Er beschloß, im Dunkeln darüber nachzudenken. Wieso schien die Sonne heute eigentlich direkt auf sein Kissen?
Er startete einen zweiten Versuch, nach den Ursachen seines Zustandes zu forschen. War er auf einer Party gewesen? Das wäre ohnehin das Wahrscheinlichste. Mit einem Male erschienen einige Bilder vor seinem geistigen Auge. Viele Leute, fröhliche Leute, die lachen. Es wird viel getrunken. Plötzlich glaubte er, sich an einen Geschmack erinnern zu können. Was war das bloß? Unfug.
Wieder wagte er einen Blick nach draußen. Warum ging der Wecker nicht an? Sein Blick glitt weiter auf die gegenüberliegende Wand. Was hatte er denn da für ein seltsames Bild hängen? Dunkle Farben, zu skurrilen Mustern und Farben verschlungen, die mit viel Phantasie alles, aber auch genauso gut gar nichts darstellen konnten. Es mußte sein Schlafzimmer, das eher einer Rumpelkammer glich, wohl schon eine geraume Zeit nicht mehr bewußt betrachtet haben; schon gar nicht bei Tageslicht.
Aber irgendwie schien ihm heute morgen sowieso alles etwas anders zu sein als sonst. Oder war er nur noch zu benommen? Um das ganze ins rechte Licht zu rücken, legte er in einem Anflug von Entscheidungsfreudigkeit fest, gestern bis spät in die Nacht auf einer Feier gewesen zu sein und bei nächster Gelegenheit endlich mal dieses Zimmer auszumisten.
Durch diesen Entschluß gestärkt nahm er seine ganze Kraft zusammen und richtete sich auf. Komischer Tag. Seine Füße tasteten lustlos nach einem Paar Hausschuhe, gaben die Suche aber bald frustriert auf. Mit einem Ansatz von Heiterkeit dachte er darüber nach, festzulegen, daß ihm jemand einen albernen Streich gespielt haben mußte. Aber wer könnte das schon in seiner Wohnung.
"Späte Rache von Claudia", dachte er, "ha ha."
"Claudia? Claudia."
Jetzt sprang er auf und legte entschlossen die fünf Meter zum Bad zurück, dessen einzige Tür sich im Schlafzimmer befand.
"Licht!" dachte er, als er es betrat, doch seine rechte Hand, die sich noch außerhalb des Bades befand, tappte ins Leere. Ach ja, andere Seite. Er ließ nun seine linke Hand die Außenwand des Badezimmers entlanggleiten und konnte sich nun endlich im Spiegel sehen.
"Das soll ich sein? Na ja", sagte er und duckte sich etwas, um auch den oberen Teil seiner Haare sehen zu können. Hatte er das sonst auch getan? Aber bei der Frisur spielte das ohnehin keine Rolle.
Ein Schwall kalten Wassers ins Gesicht, schon fühlte er sich besser. Früher hatte er mal versucht, von der Dauer des Pinkelns auf die Biermenge des Vorabends schließen zu können. Jetzt wäre er schon über die Gewißheit froh, daß es überhaupt Bier gewesen war. Was war das nur für ein Geschmack, der ihm ständig auf der Zunge lag?
Der nächste Gang sollte definitiv in die Küche führen. Daß er dabei zunächst irrtümlich das Wohnzimmer ansteuerte, wunderte ihn schon kaum mehr. Jetzt freute er sich auf einen Kaffee. Daß er die Kaffeedose aus Keramik noch vor zwei oder drei Tagen randvoll gefüllt hatte, wußte er noch. Er nahm den Holzdeckel ab. Er beugte sich vor und sah hinein. Sie war - leer.

Teil 2 - Andreas Stopperam
Es war überhaupt kaum etwas zu finden, von dem man hätte ein Frühstück bereiten können. Und auch hier schien er eine gewisse Fremdheit zu verspüren, die er sich nicht erklären konnte. Allmählich nervte ihn dieses Gefühl. Ein klein wenig beunruhigt beschloß er, sich anzuziehen und ins Büro zu gehen.
Auf dem Weg würde er sich eine Kleinigkeit beim Bäcker gönnen. Er liebte die Atmosphäre bei seinem Bäcker - dieser Geruch, die angenehme Wärme und gedämpfte Ruhe, deren Ursache zweifellos die Brote, Brötchen und der Kuchen waren. Einfach ein freundlicher Ort, der nicht nur ihn in seinen Bann zog.
Da stand er nun am Stuhl, auf dem er gewöhnlich seine Kleider ablegte - aber was war das? War er gestern beim Staatsempfang gewesen, dachte er halb belustigt, halb zweifelnd. Denn obwohl er nicht viel Ahnung davon hatte, wußte er, daß die Klamotten ein Vermögen wert waren. Die sollten ihm gehören? Ihm, der keinen gesteigerten Wert auf sein Äußeres legte und sich Anzüge borgen mußte, wenn es wirklich mal nicht anders ging? Glücklicherweise fand er im Schrank noch etwas, das seinem Geschmack entsprach.
Dann wollen wir uns mal auf den Weg machen, dachte er, als plötzlich ein Schließen an der Wohnungstür zu hören war. Wer war das? Claudia wollte ihn nie wieder sehen. Spannung wuchs in ihm. Das Schließen hatte keinen Erfolg. Dem ersten Schlüssel folgten andere, in aller Ruhe, nervenaufreibend. So, jetzt reicht es. Er riß die Tür auf und war - entzückt.
Eine wunderschöne junge Frau, in der Hand ein Schlüsselbund, neben sich zwei
große, prall gefüllte Einkaufstüten, lächelte ihn an: "Guten Morgen, Liebling. Warum siehst Du mich so seltsam an? Du weißt, die Zeit drängt. Ich mache uns schnell einen Kaffee, und Du ziehst Dich um. So kannst Du dort natürlich nicht erscheinen. Du weißt, von dem Treffen hängt alles ab."
Er murmelte etwas, ließ sie herein, brachte die Tüten in die Küche. Diese Frau war überirdisch. Noch etwas benommen lauschte er beim Umziehen, wie sie in der Küche vor sich hin trällerte. Es gab sie, das stand sicher fest. Was machte es da aus, daß er sie noch nie gesehen hatte? Eine Erinnerung tauchte kurz auf: leise Musik, das Gemurmel vieler Menschen und jemand sagte zu ihm: "Nichts wird sein, wie es war."

Teil 3 - Aljoscha Schwarz
Ein paar Mal wiederholte er diesen Satz und ließ seine dunkle, halb bedrohliche, halb verheißungsvolle Bedeutung auf sich wirken. Und mit jeder Wiederholung trat ein Gesicht klarer vor seinem inneren Auge hervor.
Doch selbst, als das innere Bild äußerste Klarheit angenommen hatte, konnte er weder Alter noch Rasse noch Geschlecht bestimmen. Nur ein zeitloses, geschlechtsloses Gesicht, dicht vor seinen Augen, und "Nichts wird sein, wie es war..."
Vielleicht hatte er nur geträumt? Nein, es war mehr als ein Traum; das wußte er instinktiv. Und er wußte, daß er das Geheimnis lösen mußte, das die Worte des (der?) Fremden in sich bargen.
Er setzte sich auf die Couch und schloß die Augen. Welche Party, bei wem, wer war diese eigentümliche Person? Nichts mehr wird sein, wie es war - doch, was war denn? Langsam stieg ein Gefühl der Panik in Henning auf.
Er wußte nicht, was geschehen war. Nichts. Oder fast nichts. Sein Name, die Kaffeedose, Claudia. Außerdem ein paar unzusammenhängende Einzelheiten.
Wer bin ich? - Henning. Henning? Wer ist das? Was tut er, wie sieht er aus, wie ist sein bisheriges Leben verlaufen?
Als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten, krümmte sich Henning zusammen. Er wußte nicht, was gewesen war, nicht aus seiner Kindheit, nichts, nichts... Nur das geheimnisvolle Gesicht.
Er bemühte sich, seine Erinnerungen systematisch zu ordnen. Aber es gab kaum etwas zu ordnen, wenn er versuchte, Ereignisse vor der
"Party" - wenn es denn eine solche tatsächlich gegeben haben sollte - in sein Bewußtsein zurückzuholen. Doch was war während der... Zusammenkunft... geschehen. Was danach?
Er merkte, daß er auf der richtigen Fährte war. Zwar fand er auch in diesem Zeitraum keine Erinnerungen vor, doch es war dies nicht das erschreckende Versinken der Vergangenheit in einem gestaltlosen Nichts, sondern lediglich das Vergessen, das auf eine längere durchzechte Nacht zurückzuführen ist. Er mußte sich nur anstrengen.
"Nichts wird sein, wie es war", hatte die Botschafterin gesagt.
"Die Zeit ist nur ein Weg..."

Teil 4 - Daniel Spielmann
"Bist du fertig, Schatz?" Die helle, klare Stimme der jungen Frau, zu der er offensichtlich in einer engen Beziehung stand (was ihm nicht einmal unangenehm war), riß Henning abrupt aus dem Grübeln über seine Vergangenheit und zwang ihn, sich der Gegenwart zuzuwenden. Er beschloß, aufmerksam zu sein; nicht ausgeschlossen, daß Erinnerungen zurückkehren würden und mit ihnen seine Identität oder das Wissen darum. Oder ermöglichte dieses erst jene?
Er beeilte sich, die Frage seiner neuen Partnerin zu bejahen und ihr, nachdem beide ihren Kaffee hastig hinuntergeschüttet hatten (die rätselhafte Frau schien es jetzt wirklich eilig zu haben), aus dem Haus zu folgen. Sie war ähnlich elegant angezogen wie er, und auch das silbergraue Auto vor dem Haus, dessen Lack in der Sonne glänzte, minderte Hennings Eindruck nicht gerade, er sei in seinem Dasein, das er gerade erst (wieder? oder zum ersten Mal?) kennenlernte, ein nicht ganz unbedeutender Mensch. Das Haus und die Nachbarschaft - ein Neubaugebiet - hingegen, die er als nächstes unter die Lupe nahm, waren schön, aber nicht außergewöhnlich. Sein Haus (oder das dieser Frau?) weckte sogar einen gewissen diffusen Eindruck von Vertrautheit in ihm, während die Nachbarschaft ihm fremd schien. Soweit er blicken konnte, waren die Rolläden noch heruntergelassen; kein Mensch war außer dieser ihm unbekannten Frau und einem ihm im Grunde ebenso unbekannten Mann, der er selbst sein sollte, zu sehen. Ihn fröstelte. Er stieg ins Auto ein.
Zum Glück hatte die Frau, deren Schönheit Henning immer noch faszinierte (ähnelte sie vielleicht Claudia? (Claudia? Wer war das? Claudia ... er erinnerte sich nicht an sie, wenn er über sie nachdachte)), schon auf dem Fahrersitz Platz genommen, so daß ihm ein mühevolles, weil notwendigerweise vorsichtiges und unauffälliges Herausfinden der Route erspart blieb. Sie startete den Wagen und fuhr nach links aus der Einfahrt auf die, wie er zu bemerken meinte, ungewöhnlich breite Straße.Schon bald befanden sie sich im Wald und fuhren der Sonne entgegen. Die Blätter warfen ständig wechselnde Schatten auf die Straße, die sich bergauf, bergab, um Kurven schlängelte, so daß die Frau sich auf das Fahren konzentrieren mußte, was Henning ermöglichte, den unterbrochenen Gedankengang wieder aufzunehmen und über sein bisheriges Leben nachzusinnen.
"Nichts wird sein, wie es war" - wie war es denn gewesen?
"Die Zeit ist nur ein Weg" - wohin? Ein Ergebnis hatte sein Denken jedoch nicht, obwohl er sich so sehr in es vertiefte, daß er erst, als die Frau ihn ansprach, wahrnahm, daß sie den Wagen nun durch eine Stadt lenkte. Im gleichen Moment ärgerte er sich, nicht auf das Ortsschild geachtet zu haben.

Teil 5 - Stephan Meyer
Und während Henning mit der geheimnisvollen Frau über die Straßen brauste, begann er allmählich, diese Autofahrt zu genießen. Er hatte, noch während sie durch den Wald fuhren, das Wagenfenster geöffnet und fing mit der halbgeschlossenen Hand den kühlenden Fahrtwind ein. Es versprach ein warmer Tag zu werden, er war mit einer wunderschönen Frau auf dem Weg zu einem - so hoffte er - wunderbaren Treffen, und überhaupt: War dieser noch gar nicht so lange Tag nicht schon so verwunderlich, so voller Überraschungen, was konnte ihm da überhaupt noch geschehen?
Was auch immer am Wochenende passiert sein mochte, irgendwie schien er wie vom Glück verfolgt zu sein. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er warf einen zufriedenen Blick auf seine Fahrerin und beschloß, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen, weil es das Schicksal offenbar nur gut mit ihm meinte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, welchen Preis er dafür hatte zahlen müssen.
So zuversichtlich er auch über seine Zukunft war, so neugierig war Henning doch inzwischen darauf, mehr über die Frau neben sich zu erfahren. Mit einem Tastendruck schloß er das Wagenfenster.
"Wie gelingt es mir nur, ihren Namen herauszubekommen?" quälte er sich. Da sie sich beide scheinbar so nahe standen, konnte er sie wohl kaum danach fragen. Es wäre ihm einfach zu peinlich. "Aber ich muß ihren Namen wissen! Er wird mir vielleicht weiterhelfen, mich zu erinnern. Ja, ihr Name würde meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen!" Und während er dabei gedankenverloren am Knopf des Handschuhfachs herumspielte, kam ihm eine Idee: Er brauchte doch nur ihre Wagenpapiere anzusehen. Sie lagen mit Sicherheit im Handschuhfach.
Er hatte das Fach gerade einen Spalt breit geöffnet, als er ihre Hand auf der seinen spürte. Sanft, aber bestimmt drückte sie das Handschuhfach langsam wieder zu. Er öffnete seinen Mund zu einer erstaunten Frage, doch sie kam ihm zuvor mit dem bezauberndsten Lächeln der Welt und einem geheimnisvollen: "Nein, Schatz! Das Handschuhfach mußt Du bitte noch zulassen. Da ist eine Überraschung für Dich drin!" Er legte seinen linken Arm auf ihre Schultern, gab ihr einen Kuß und flüsterte: "Seit ich heute aufgestanden bin, hält dieser Tag ununterbrochen Überraschungen für mich bereit!" Für einen kurzen Moment sah sie ihn erstaunt an, dann fiel sie in sein Lachen ein.

Teil 6 - Jan Hendrik Peters
Die Häuser in den Straßen rückten nun dichter zusammen und wuchsen immer weiter in den Himmel empor. Obwohl ihm jedes einzelne Haus sonderbar vertraut vorkam, konnte er sich doch nicht erinnern, diese Häuser jemals in dieser Anordnung gesehen zu haben. Offensichtlich befanden sie sich in einem Büroviertel einer mittelgroßen Stadt. Seine Erwartung, daß er ins Büro müsse, sollte sich wohl bewahrheiten, und er zweifelte nun nicht mehr daran, daß es sich bei diesem bevorstehenden Treffen um eine geschäftliche Besprechung handeln würde, auch wenn er noch nicht ahnte, um welches "Geschäft" es gehen könnte.
Durch diese neu erlangte Gewißheit steigerte sich seine Zuversicht, die er sowieso schon immer mehr wiedergewonnen hatte, noch weiter. Er bemerkte auch einige Vögel auf der ansonsten so unbelebten Straße, und es überkam ihn eine eigenartige Freude darüber, noch andere Lebewesen zu erblicken.
Ihm wurde bewußt, daß er bisher nur zwei Menschen gesehen hatte, an die er sich erinnern konnte, und diese Menschen waren die Frau am Steuer des Wagens (war es sein Wagen oder gehörte er der Frau? - gehörte er ihnen vielleicht sogar gemeinsam?) und er selbst; und beide Menschen muteten ihm fremd an, nur mit dem Unterschied, daß es ihm so vorkam, als gehöre diese fremde Frau in diese fremde Welt, er aber nicht.
Es war Montag und etwa 8 Uhr morgens: warum waren keine Menschen auf den Straßen? Er mußte seinen Wunsch, mehr über diese Welt zu erfahren, unbedingt befriedigen. Seine linke Hand wanderte zum Einschaltknopf des Autoradios: Auf diese Weise konnte er - ohne auffällige Fragen an die junge Frau zu richten - mehr über seine Umwelt erfahren, und wenn er einen UKW-Sender einstellte, hatte er sogar gute Aussichten, sein Versäumnis, das Ortsschild nicht gelesen zu haben, nachzuholen. Der Schalter knackte leise, als er ihn langsam rechtsherum drehte, aber danach war nur noch ein Rauschen zu hören.
"Aber Henning, du weißt doch, daß die Radiostationen nicht mehr senden", hörte er die Frau neben sich sagen. Sie schaute ihn besorgt an.
"Natürlich, das weiß ich", beeilte er sich zu versichern,
"ich hatte nur für einen Moment nicht daran gedacht." Er fühlte sich verunsichert. Nicht nur seine persönliche Situation, sondern die ganze Welt schien sich verändert zu haben.
Der Wagen schwenkte in eine Seitengasse ein und fuhr auf die Auffahrt zu einem Haus zu. Sie näherten sich anscheinend ihrem vermeintlichen Ziel. Das Bauwerk, auf das sie jetzt zusteuerten, sah älter und baufälliger aus, als die Gebäude, die sie bisher gesehen hatten. Auch glich es keineswegs einem Bürohaus, sondern konnte bestenfalls als zerfallene Fabrikhalle, eher noch als Werkstatt durchgehen.

Teil 7 - Wolfram Menzel
Es zeigte sich aber, das er sich getäuscht hatte, denn das Gebäude, das sie jetzt betreten hatten, machte von innen durchaus nicht den Eindruck, als wäre es baufällig. Fast hatte man das Gefühl, als habe man absichtlich dafür gesorgt, daß von außen nicht erkennbar sein sollte, wie es im Inneren aussah.
Sie betraten einen Lift. Hier wartete eine Überraschung auf Henning. Es gab auf dem kleinen Schaltfeld nämlich zwar nur zwei Knöpfe für die oberen Etagen aber zehn für Etagen unter der Erde. Die Frau neben ihm drückte auf den Knopf für die neunte untere Ebene. Der Lift setzte sich überraschend schnell in Bewegung. Das verursachte in Hennings Magengegend ein mulmiges Gefühl. Gleichzeitig aber wußte er mit einem Schlag, wer die Frau neben ihm war. Sie hieß Janine. Warum es ihm so plötzlich eingefallen war, wußte er nicht, aber es war ihm klar, daß er Janine seit nur zwei Wochen kannte. Claudia war es nicht, er wußte immer noch nicht, wer das war.
Es dämmerte ihm, daß er Janine auf einer Party kennengelernt hatte. Bei beiden hatte es sofort gefunkt. Er erinnerte sich plötzlich, daß diese zwei Wochen unwahrscheinlich schön gewesen waren, bis gestern etwas passiert war, an das er sich immer noch nicht richtig entsinnen konnte. Genauso abrupt, wie der Lift angefahren war, hielt er an. Henning spürte wieder ein mulmiges Gefühl im Magen. Ein bißchen hatte er darauf gehofft, daß er vielleicht dadurch wieder den ihn umgebenden Geheimnissen auf die Spur käme, wurde jedoch enttäuscht. Es fiel ihm nichts Neues mehr ein.
Sie verließen den Lift und gingen einen hell erleuchteten langen Gang entlang. Türen gab es nicht sonderlich viele. Henning fiel auf, daß der Korridor erheblich länger war, als das Gebäude von außen schließen ließ.
An der dritten Tür hielten sie an. In Augenhöhe neben der Tür war eine kleine Schalttafel angebracht, in die ein Lautsprecher und ein Mikrophon eingebaut waren. Janine drückte auf einen Klingelknopf und wartete. Nach kurzer Zeit ertönte nur ein knappes "JA!?", woraufhin Janine sagte: "Ich bin's, Janine, Frau Botschafterin!"
Na, jetzt wird's ja interessant, dachte sich Henning. Die Tür öffnete sich leise, und sie traten in einen großen Besprechungsraum, in dem ein großer runder Tisch mit vielen Stühlen stand. An einer Wand war eine Leinwand gespannt, und ein Overhead-Projektor warf gerade ein Diagramm darauf. Im Raum war nur eine Person, das mußte dann ja wohl die Botschafterin sein. Sie wandte sich ihnen zu und kam ihnen entgegen.
Nun machte es in Hennings Kopf wieder klick, das nächste Puzzle-Stück fand seinen richtigen Platz. Er erkannte nämlich die Botschafterin wieder, und mit dieser Erkenntnis kam glücklicherweise noch eine Information. Sie hatte behauptet: "Nichts wird sein, wie es war!" Nun fiel ihm auch dazu ein, bei welcher Gelegenheit sie dies gesagt hatte. Mit einigen anderen Personen, an die er sich nicht erinnern konnte, hatten sie Nachrichten am Radio verfolgt. Als die Abschlußmelodie der Nachrichten erklang, sagte die Botschafterin diesen Satz. Um was es genau bei diesen Nachrichten ging, entzog sich noch seinem Zugriff, er fühlte nur, daß es etwas enorm Wichtiges gewesen war, denn er konnte sich wieder an die entsetzten Gesichter der Menschen erinnern, die zuvor doch alle so ausgelassen gelacht hatten. Vage konnte er sich noch daran erinnern, daß ihm jemand auf den Schreck etwas zu trinken gegeben hatte, was ganz sonderbar geschmeckt hatte. Nur, was genau danach passiert war, das wußte er immer noch nicht.
Die Botschafterin sagte: "Schön, daß Ihr es doch geschafft habt. Das ist ja heute wirklich keine Selbstverständlichkeit." An ihrer Stimme erkannte er sie wieder. Und damit kam glücklicherweise auch noch ein weiteres kleines Puzzlestück. Er erinnerte sich, daß die Nachricht, die alle so entsetzt hatte, die ganze Menschheit betroffen hatte. Wurde da nicht über etwas berichtet, was Wissenschaftler ausprobiert hatten und was fürchterlich schief gegangen war?

Teil 8 - Barbara Köhler
Als hätte jemand auch in seinem Kopf ein Radio angestellt, empfing er immer klarer Einzelheiten der Erinnerung. Man hatte ermittelt, daß eine Gruppe innovativer Forscher und Ingenieure bereits seit Jahren im geheimen daran arbeitete, einen Zeittunnel zu erschaffen - ja, es war sogar höchstwahrscheinlich, daß die Arbeit schon mit Erfolg abgeschlossen worden war und erste Versuchspersonen die Reise durch diesen Tunnel angetreten hatten. Nachforschungen in dieser Richtung waren unternommen worden, nachdem in letzter Zeit immer häufiger Menschen vom Erdboden zu verschwinden schienen. Worte wirbelten durch seinen Kopf: Hyperraum, Wurmlöcher, Syntropodenbrücken... beängstigende Begriffe, von denen er nichts verstand. In einem plötzlichen Entschluß ließ er seine abwartende, auskundschaftende Haltung fahren. Die Sache schien zu heiß. Er mußte wissen, was los war."Wo bin ich, und was ist geschehen?" wandte er sich an die Botschafterin, ein androgynes Wesen von kühler Eleganz, das den Eindruck hoher Intelligenz ausstrahlte. Nach kurzem Zögern lächelte sie nachsichtig.
"Du bist hier", sagte sie, "in der Parallelwelt AX-27, in einer von unendlich vielen solchen Welten. Alles, was du hier siehst, hat schon immer existiert - als Möglichkeit einer Realität, so wie der Gedanke vor der Tat, die Vorstellung vor der Verwirklichung. Zu dem, was wir Realität nennen, konnte AX-27 aber erst werden, als die ersten wirklichen Menschen hier ankamen, zehn mutige Forscher, darunter auch ich und Janines Vater. Was keiner vorausgesehen hatte: Es gefiel uns so gut in dieser Welt der Möglichkeiten, daß wir beschlossen, offiziell nicht mehr zur Erde zurückzukehren." Sie machte eine kleine Pause, während der sie mit durchdringendem Blick zu prüfen suchte, wie Henning all diese Neuigkeiten aufnahm.
"Heimlich tun wir das natürlich", fuhr sie fort.
"Du hast sicher schon festgestellt, daß es hier noch wenig Leben gibt. Das wollen wir ändern. So hat Janines Vater zum Beispiel Janine herübergeholt - und Janine dann dich."
"Aber warum - warum denn mich?" Eine klügere Frage fiel ihm im Augenblick nicht ein. Janine legte zärtlich die Hand auf seinen Arm.
"In jeder Parallelwelt sind wir alle die, die wir sind - und doch nicht ganz. In jedem Leben auf der Erde gibt es unzählige Entweder-Oder-Situationen, und von der Entscheidung hängt es ab, wie sich Dein Leben weiterentwickelt. Das Andere geht aber nicht verloren. Es existiert als Möglichkeit in einer Parallelwelt. Für uns beide" - und sie rückte noch ein wenig näher an Henning heran -
"geschieht auf AX-27 genau das, was geschehenen wäre, wenn Dein Vater nicht gestorben wäre, als du fünf Jahre alt warst."
Henning stockte der Atem. Bilder aus früher Kindheit liefen wie ein Sturzbach vor seinem inneren Auge vorbei. Da waren die zwei großen Villen mit den schönen Gärten im reichsten Viertel der Stadt: links die seines Vaters, eines Arztes, rechts die eines Physikers. Und er sah zwei Kinder im Garten spielen, sich und ein kleines Mädchen, das - ja, er hätte es fast vergessen! - Janine hieß. Dann wurde sein Vater todkrank, starb bald darauf, und seine Mutter mußte das Haus aufgeben und in eine mittelständische Gegend ziehen. Er hatte das Mädchen nie wiedergesehen. Bis jetzt -
"... aber hier auf AX-27 sind unsere beider Leben auf immer verbunden", flüsterte ihm Janine gerade zärtlich ins Ohr. Henning versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
"Und was ist mit meinem Erdenleben?" fragte er.
"Das gibt es nicht mehr", antwortetet die Botschafterin.
"Du bist dort nicht mehr existent. Du hast dich gewissermaßen in Luft aufgelöst."

Teil 9 - Peter Seifert
Henning war erleichtert und verwirrt zugleich. Erleichtert darüber, daß aus den wenigen Mosaiksteinchen allmählich etwas entstand, mit dem er vertraut war - Janine, die Botschafterin, Kindheitserinnerungen. Dieses Gefühl reichte jedoch keineswegs aus, die Verwirrung zu kompensieren, die einfach da war, weil er sich anscheinend in einer Umgebung befand, in die er nach Janines Meinung gehörte, in die er aber nicht wollte. Niemals zuvor war er derart fremdbestimmt worden; niemals zuvor hatte man ihm eine Entscheidung abgenommen, dorthin zu gehen, wo er es für richtig hielt. Was steckte hinter AX-27? Wie war er in AX-27 gelandet? Und "Wie komme ich hier wieder heraus", fragte er sich.
Er wollte die Wahrheit herausfinden, doch wo war der Schlüssel dafür? Hielt man ihn nur zum Narren, oder gab es diese Parallelwelt wirklich?
"Quatsch", dachte er sich, "kein Wissenschaftler kann die Realität wegforschen." War er vielleicht Teil einer Verschwörung, eines Kriminalfalles geworden? Hatte man ihn unter Drogen gesetzt? Plötzlich wurde ihm klar, warum beim Frühstück alles so fremd geschmeckt hatte.
Während dieser Überlegungen unterhielten sich Janine und die Botschafterin angeregt. Henning hätte zu gerne gewußt, welche Rolle diese gleichzeitig imponierende und suspekte Frau spielte. Er hörte gerade noch, daß Janine in erregtem Ton den Namen Claudia erwähnte, als ein unverkennbarer Druck auf seiner Blase ihm signalisierte, daß wenigstens bestimmte Körperfunktionen aus der alten Welt erhalten geblieben waren. Er entschuldigte sich und verließ den Raum, um die Toilette zu suchen. Als er die Fahrstuhltür passierte, überkam ihn der Gedanke, zu fliehen. Glücklicherweise brauchte er weder Codekarte noch Schlüssel, um unbemerkt wieder zurück zum Erdgeschoß zu kommen. Verdammt, der Typ an der Eingangstür war doch vorher nicht da, stellte Henning fest. Wenigstens war er beschäftigt; er saß vor einem Bildschirm, auf dem bunte Bilder flimmerten, die offensichtlich aus der Welt kamen, in die er zurück wollte.
Es gelang Henning, das Gebäude durch eine Seitentür zu verlassen. Der Wagen stand noch dort, wo Janine ihn abgestellt hatte. Ein kurzer Blick genügte jedoch, um festzustellen, daß der Zündschlüssel fehlte, aber jetzt gab es wenigstens die Gelegenheit, die vermeintliche Überraschung aus dem Handschuhfach zu inspizieren. Henning setzte sich in den Wagen, öffnete die Klappe und fand einen ziemlich schweren, verschlossenen Briefumschlag. Er war gerade im Begriff, ihn aufzureißen, als Janine neben ihm auftauchte. Alle Freundlichkeit schien von ihr gewichen, Henning schaute in die Mündung eines Revolvers.

Teil 10 - Winfried Stumpf
Janine riß die Wagentüre auf und herrschte ihn mit grimmiger Stimme an:
"Leg den Umschlag wieder zurück und steig dann ganz langsam aus!" Vor lauter Schreck fiel Henning der Umschlag erst einmal auf den Boden. Er versuchte, nach ihm zu tasten, ohne die auf ihn gerichtete Pistole aus den Augen zu lassen.
"Zieh hier keine Show ab - wir haben nicht ewig Zeit!" knurrte Janine. Endlich fand er den Umschlag, ergriff ihn mit zitternden Fingern und legte ihn vorsichtig in das Handschuhfach. Doch schon stieß er auf die nächste Schwierigkeit: Der große Umschlag blockierte die Klappe, sie ließ sich nicht mehr schließen. Im Bewußtsein der Bedrohung versuchte er hektisch, mit beiden Händen den Umschlag in das Handschuhfach hineinzustoßen. Dabei purzelten nacheinander Parkscheiben, Tempotaschentücher und schließlich sogar der Autoatlas zwischen seine Beine.
"Laß das jetzt! Steig endlich aus!" hörte er plötzlich die vertraute Stimme von draußen. Henning zuckte zusammen und versuchte, dem Befehl Folge zu leisten. Leider vergaß er dabei die offene Handschuhfachklappe, an der er prompt mit dem linken Bein hängenblieb. Da konnte Janine nicht mehr an sich halten: Ihre grimmig zusammengekniffenen Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, das ein Lachen wurde, und schließlich prustete Janine nur so heraus: "Du mußt wirklich ziemlich fertig sein, wenn du mein altes Feuerzeug für eine echte Waffe hältst", kicherte sie. Sie zog den Abzug durch, worauf eine kleine Flamme aus dem Oberlauf aufstieg.
"Möchtest du noch eine letzte Zigarette, bevor ich dich in die ewigen Jagdgründe befördere?" fragte sie Henning glucksend, der fassungslos in den Polstern des Wagens lag. Als Henning keine Antwort gab, ging sie um den Wagen herum und setzte sich neben ihn auf den Fahrersitz.
Sie nahm seine Hand, lächelte ihn liebevoll an und begann zu erklären:
"Henning-Schatz, wir haben jetzt nicht viel Zeit aber hör mir bitte zu. Du erinnerst dich vielleicht, daß du eingewilligt hast, mir auf diese Welt zu folgen. Da der Zugang zu AX-27 nicht allgemein bekannt werden darf, wollte man ihn auch dir nicht offenbaren. Du warst einverstanden, ein starkes Schlafmittel zu schlucken. Als du schliefst, wurdest du in unser Haus hier gebracht." Janine machte eine Pause und atmete tief durch.
"Ich habe mir aber in den letzten Tagen so meine Gedanken gemacht", meinte sie.
"Solange du den Rückweg nicht kennst, weiß ich ja nie, ob du bei mir bleibst, weil du mich liebst, oder weil dir nichts anderes übrig bleibt. Ich möchte nicht, daß du dich jemals auf dieser Welt wie ein Gefangener fühlst. Ich habe mich daher entschlossen, dir den Weg zurück zu zeigen. Alles Nötige findest du in dem Umschlag im Handschuhfach."
"Aber was ist", wollte Henning eine Frage stellen, doch Janine schüttelte den Kopf. "Nicht jetzt - später", meinte sie. "Jetzt müssen wir zurück zur Botschafterin. Komm!" Sie stieg aus dem Wagen und lief auf das Haus zu. Noch immer etwas verwirrt folgte ihr Henning.

Teil 11 - Christel Leistikow
"Pst!" hörte er da hinter sich eine Stimme.
"Henning, hier bin ich." Und da stand sie tatsächlich - Claudia, die rote Mähne ungekämmt, mehr Sommersprossen als Sterne am Himmel und mit dem grünen Seidenhemd, das er schon längere Zeit vermißte. Typisch!
"Henning, ich kann nicht lange bleiben, hör zu - Du mußt hier sofort weg."
"Also", unterbrach er sie, nun wirklich entrüstet, da er einen Winkelriß in seinem sündhaft teuren Hemd entdeckt hatte, "erstens solltest du es dir abgewöhnen, meinen Kleiderschrank zu behandeln, als wäre er dein Privateigentum. Und zweitens dachte ich, ich hätte wenigstens in einer Parallelwelt Ruhe vor deiner Eifersucht."
"Ich spioniere dir nicht nach, ich bin hier, um dich zu retten! Merkst du denn gar nicht, daß das aufgetakelte Biest mit dem Pferdegebiß dich nur hierher gelockt hat, weil die Hyänen dich als Zuchtbullen benutzen wollen, um ihre blöde sterile Welt zu bevölkern? Du mußt hier weg, sonst wirst du ausgequetscht wie eine Zitrone."
Henning, der sich diese neue Perspektive plastisch vorstellte, grinste selbstgefällig, was in Claudia, die sich nur mit äußerster Mühe und extrem hohem Energieverbrauch hatte materialisieren können (auf Hennings Kosten natürlich, zu dessen Wohnung, Kaffeedose, Kühl- und Kleiderschrank sie noch immer den Schlüssel besaß), eine solche Wut auslöste, daß sämtliche Stromkreise durchbrannten und sie sich vor Hennings Augen in Luft auflöste. Einen Moment lang hingen die roten Locken und vereinzelte Sommersprossen noch in der Luft.
"Sie liebt mich", schaffte er es gerade noch zu rufen, und wie aus weiter Ferne hörte er ein: "Du Idiot! Außerdem würde ich mit den fetten Beinen keine Miniröcke...", dann war er wieder allein.Allein? Langsam drehte er sich um. Da standen sie. Blonde, rote, schwarze, brünette Frauen, große, kleine, schlanke, muskulöse, eine bedrohliche Wand, die sich langsam auf ihn zubewegte, mit hungrigen Blicken, die sich wie Saugnäpfe an ihm festsetzten. Allen voran Janine, mit einem strahlenden (tatsächlich!) Pferdelächeln und ausgebreiteten Armen. Henning, vor dessen geistigem Auge Bilder von Kraken und Piranhas aufstiegen, fühlte Panik in sich aufsteigen, und sein Grinsen verschwand ebenso schnell wie kurz zuvor sein mißhandeltes Seidenhemd. Schritt für Schritt tastete er sich zurück.

Teil 12 - Michael Böhme
Und dann hörte wieder dieses wohlbekannte und gleichermaßen unangenehme Klingeln. Und auch heute war es ihm wieder höchst willkommen, da es ihn endgültig in die Wirklichkeit zurückholte.
"Diese elenden Morgenträume!" dachte er, während er sich mühsam erhob. Hört das denn nie auf?!! Nein, natürlich nicht - nicht, bis ich weiß, was diese Träume zu bedeuten haben, und - verdammt nochmal - ich werde mich ihnen stellen, heute noch... jetzt!
Wie war das noch in seinem Psychopathie-Studium, wie er es bisweilen sarkastisch nannte? Er hatte damals auch einen Traumkunde-Workshop mitgemacht und versuchte, sich zu erinnern... Na klar: Claudia war Claudia, wer sonst - und nach der Mellmann-Hammerschmidt-Theorie symbolisierte der verschlossene Umschlag zweifelsohne seinen bislang unerfüllten Wunsch nach Abnabelung von seiner transsexuellen Stieftante. So weit, so gut. Aber was, zum Teufel, sollte der Schwachsinn mit der zweiten Welt?? Wenn es wenigstens die dritte Welt wäre, aber so... Am meisten machte ihm jedoch die plötzlich leere Kaffeedose zu schaffen; er wußte, es hatte etwas mit seinem Haß auf Frau Sommer zu tun - aber was? Er mußte mal mit seiner Mutter darüber sprechen, am liebsten hätte er sofort in der Botschaft angerufen, doch leider telefonierte Janine gerade mit ihrem Reitlehrer, und so beschloß er, erstmal zu Horst zu schwimmen. Horst war der Masseur seines Rottweilers und bewohnte das dritte Hausboot flußabwärts nach seinem.
Kaum war Henning im Wasser, wurde ihm schlagartig bewußt, daß er einen großen Fehler begangen hatte. Entschlossen griff er zu dem knöchernen Trillerpfeifchen, das er stets an einem ausgedienten Schweinsdarm um den etwas zu kurz geratenen Hals trug.

Teil 13 - Jan Sieckmann
Rasch den Ultraschallpfiff. Wie hatte er nur den Unfall gestern vergessen können, im Chemiewerk flußaufwärts, wo das AX-27 für die ganze Welt hergestellt worden war? Im Radio war die Warnung gekommen. Die penetrante Werbung hatten sie aber weitergesendet: »AX-27 / macht Dich klar! / Nichts wird sein / wie es war.«
Hätte er dieses seltsam schmeckende Beruhigungszeugs gestern nach der Radionachricht nicht in doppelter Dosis geschluckt, hätte er diesen mysteriösen Traum wohl nicht gehabt. Und sicherlich wäre er nicht in den Fluß gesprungen.
Henning pfiff noch einmal. Herrje, sonst kam das Delphintaxi doch sofort, wenn er es brauchte - was jetzt ohne Zweifel der Fall war. Diese bläulich-gelbe Suppe um ihn herum machte den Eindruck, als ob sie einen munteren Weißen Hai mühelos in eine eingelegte Nordseerobbe verwandeln könnte. Und die schwarzen Schlieren - war es nur seine Einbildung, daß sie bereits begannen, seine Zehennägel abzuätzen?
Henning glaubte zwar an IQ-Tests, den Weihnachtsmann und an das Recht auf ein Happy-End. Als aber auch sein dritter Pfiff ungehört verhallte, wurde ihm mulmig. Henning handelte hastig: »Horst, hilf!«.
Keine Antwort auf den Stabreim. Vielleicht hätte Henning doch besser die Nebenwirkungen des AX-27 (24 Stunden lang keine körperliche Anstrengung möglich) im Gedächtnis behalten sollen als die Geheimnisse westhebridischer Skaldendichtung. Aber Claudia war ja so vernarrt in alles Nordische. Claudia..., so sehr er sie liebte - es war eindeutig i h r e Schuld, daß er jetzt in dieser Brühe ertrinken würde...

Teil 14 - Olaf Brill
Claudia starrte unheimlich lange auf Hennings Leiche. Er hatte eine große Platzwunde auf der Stirn und wirkte tatsächlich total tot. Irgendwer hatte ihr mal erzählt, daß Leichen eher sanft wirkten, wie Schlafende, aber Henning sah wirklich aus, als sei er mausetot. Was, so fragte sie sich unwillkürlich, hatte ihn nur dazu bewogen, seine Haare so schneiden zu lassen, als hätte er eine beginnende Glatze? Was ihr sofort aufgefallen war, als sie die Leichenhalle betreten hatte, war, daß Henning wirkte, als hätte er sich absichtlich ein wenig älter machen wollen. Abgesehen davon, daß er tot war, natürlich. Und wo hatte er sich diese zwei Wochen herumgetrieben? Nach diesem Streit hatte er sich drei Tage lang nicht bei ihr blicken lassen, dann hatte sie aus purer Gemeinheit eine Vermißtenanzeige bei der Polizei aufgegeben, nur so, um ihn zu ärgern. Da hatte sie es sich nicht träumen lassen, daß sie Henning hier wiederbegegnen würde, mit einem Zettel um den Zeh, auf dem die Buchstaben "N.N." standen.
"Na, können Sie ihn identifizieren?" fragte Kommissar Faust, der auf der anderen Seite der Leiche stand, ein bulliger, unrasierter Typ, der ständig auf irgend etwas kaute, dessen Natur Claudia lieber nicht nachgehen wollte.
"Sowas habe ich noch nie erlebt: daß jemand völlig besoffen von der Treppe stürzt und dann in einer Pfütze ertrinkt. Ein äußerst seltsamer Todesfall, wenn Sie mich fragen." Dabei sah Faust sie so komisch durchdringend an. Pietätlos plauderte er weiter: "Da waren bestimmt ein paar ganz abscheuliche Drogen im Spiel. Na, aber das werden wir schon feststellen, wenn wir nachher die Leiche auseinanderschnibbeln. Ist das nun Ihr Typ oder was?"
Claudia wollte gerade antworten, da rauschte eine große Blondine mit einem irgendwie zu groß geratenen Gebiß und einem irgendwie unvorteilhaft knappen Rock herein und schrie: "Oh, Horst, nein, oh, oh, Horst, Horst, nein, Horst, oh, oh..." usw. Claudia und Faust sahen sich fassungslos an. Die Blonde kam neben ihnen zu stehen, musterte Henning einen kurzen Moment lang abschätzend und warf sich dann heulend auf seine Brust.
"Oh, Horst, Hoooooorst, mein Horst, nein, nein."
Faust tippte ihr sachte aber bestimmt auf die Schulter und fragte rotzig:
"Darf ich mal fragen, wer Sie jetzt sind?" Die Blonde richtete sich auf, schnüffte und jammerte kleinlaut: "Janine von Steilmann. Es handelt sich hier um meinen Gatten, Horst von Steilmann. Oh, Horst, nein, Hohoohoooorst!"
Faust seufzte und ging erstmal ein paar Schritte.
"Das gibt nur wieder Schreibarbeit", murmelte er.
"Na, kommen Sie mal beide mit!" In diesem Moment schien Janine Claudia zum ersten Mal zu bemerken.
"Und wer bitteschön ist diese Person?" fragte sie spitz. Ohne daß der Kommissar es sehen konnte, warf sie Claudia einen langen, brutalen Blick zu. Claudia glaubte Bestandteile von Angst und Überraschung darin zu erkennen, aber vor allem das: kalt kalkulierende Mordlust.

Teil 15 - Martina Luzar
An diesem Blick erinnerte sich Claudia, als Janine von Steilmann ungefähr 2 Stunden später im Polizeirevier an ihr vorbeirauschte. Die Frau hatte ihr Gespräch mit dem Kommissar hinter sich gebracht, und nun war Claudia an der Reihe. Kommissar Faust wirkte leicht genervt, als er sie in sein Büro bat, kein Wunder, das Kreischen von Frau von Steilmann war unüberhörbar gewesen, und auch Claudia war froh, daß sie diese Stimme nicht mehr hören mußte. Interessant waren die Wortfetzen gewesen, die sie aufgeschnappt hatte: getrennt lebend, vermögend, Streit über Firma, Lebensversicherung... Bloß warum behauptete sie steif und fest, daß Henning Habicht nicht Henning, sondern Horst von Steilmann war???
Kommissar Faust kam schnell auf den Punkt: "Können Sie sich vorstellen, daß ihr Freund ein Doppelleben geführt hat?" Dieser Gedanke war Claudia auch schon gekommen, kein Wunder, wenn frau verzweifelt versucht, eine Erklärung für diese groteske Situation zu finden.
"Nein. OK, er war ab und zu etwas komisch, war einen Tag lang nicht aufzufinden, aber sonst war alles vollkommen normal. Wir haben uns auch nicht deswegen getrennt..."
"Getrennt???"
"Ja, wir konnten einfach nicht zusammen leben. Nach 3 Tagen bin ich wieder ausgezogen."
"Wahrscheinlich wird Ihnen dies einen Schock versetzen." Faust öffnete einen Karton, der vor ihm auf dem Tisch stand, und zog einen Führerschein heraus. Claudia nahm ihn mit zittriger Hand und...
"Horst von Steilmann". Sie fühlte sich wie mit einem Vorschlaghammer geschlagen.
"Sie kannten sich wie lange?"
"3 Monate, aber..."
"Vielleicht können sie uns dies hier erklären." Er zog einen zusammengefalteten Zettel aus dem Karton. Ein Beipackzettel. AX-27. Was zum Teufel sollte das? Der Name eines Arztes und eine Telefonnummer waren in Hennings Handschrift oben auf den Rand gekritzelt. Henning war krank gewesen? Verwirrt suchte sie den Zweck dieses Medikamentes...

Teil 16 - Erika Wendelken
"Ein Sedativum!" sagte sie großäugig verwirrt.
"Henning nahm doch nie stärkere Medikamente als die Kräutertees, die ein ihm befreundeter Apotheker mixte! Aber was ist mit diesem Arzt? Haben Sie ihn schon angerufen?"
"Ich habe nur seinen Anrufbeantworter - "
Das melodische Gewimmer der Telephonklingel unterbrach Faust, der sogleich zum Hörer griff.
"Mordkommission, Faust. - Ja? - Wir fanden Ihren Namen und Ihre Nummer bei einer Wasserleiche. Haben Sie einem Patienten namens Horst von Steilmann das Medikament AX-27 verschrieben? - Nein? - Wie bitte? Sagen Sie das noch einmal! - - Doktor, können Sie in einer Viertelstunde im Präsidium sein? Ja, versuchen Sie es! Bis gleich!"
Und zu Claudia gewandt, die ihn ebenso verständnislos wie erwartungsvoll ansah, sagte er im Hinauslaufen, Triumph im Blick: "Es kommt in Gang! Warten Sie hier!"
Claudias Augen irrten blicklos über den Text des Beipackzettels: "Wechselwirkungen mit anderen Mitteln: Nach Verabreichung von AX-27 ist 17 Stunden lang jeglicher Kaffeegenuß zu vermeiden, da er tiefe Ohnmacht, bei Überdosierung sogar Herzstillstand hervorrufen kann. Kaltwasseranwendungen verstärken die Symptome, retardieren jedoch die Wirkung."
Nach einer Viertelstunde, die sich für Claudia zu einer Ewigkeit dehnte, kreuzte Faust breit grinsend wieder auf. Vor sich her schob er einen hochgewachsenen Fremden in der typischen Berufskleidung der Ärzte, eine giftig blickende, mit Handschellen gefesselte Janine von Steilmann, die sogleich von einem Wachtmeister abgeführt wurde, sowie eine fahrbare Liege, auf der, bleich und benommen, aber mit zwinkernden Augen Henning lag, fast verdeckt von seinem treuen Rottweiler, der ihm hingebungsvoll Nase und Wange leckte. Als Claudia sich mit einem Freudenschrei auf ihn werfen und das gleiche tun wollte, hielt Fausts Faust sie väterlich zurück: "Er braucht noch Ruhe!"
Und dann erzählte er in wenigen Worten, was der Arzt, Hennings alter Schulfreund, ihm berichtet hatte. Henning hatte zwei Kisten Champagner darauf gewettet, daß er auch von einer dreifachen Dosis AX-27 nicht einschlafen würde. (Die Wette hatte er verloren.) Janine von Steilmann aber, die es auf die Millionen von Hennings todkranker Erbtante (jener transsexuellen Stieftante) abgesehen hatte, habe Hennings Hilflosigkeit ausgenutzt, ihn mit Unmengen Kaffee vollgedröhnt und ihm durch den verbrecherischen Rottweiler-Masseur Horst falsche Papiere unter die Weste jubeln lassen, die ihn sozusagen posthum mit ihr verehelichen sollten.
"Aber unser V-Mann, der ihr vom Präsidium aus unauffällig folgte, erwischte die Ruchlose in flagranti, als sie just zwecks Spurenverwischung Hennings Kaffeedose wieder auffüllte - mit einem ziemlich drittklassigen Discount-Kaffee, wenn Sie mich fragen."
Eben dies tat Claudia mit den Worten: "Und Horst, der Komplice?"
"Diese treue Tierchen hier," sprach Faust und öffnete die seine zu einem unglaublich sanften Streicheln des Hundehauptes, "witterte den Verrat, nahm seinen Masseur beim Schlafittchen und apportierte ihn mir vor wenigen Minuten. Horst ist voll geständig. - Und da unser Chefpathologe ans Wochenbett seiner Frau gerufen wurde, die derzeit am Gebären von Drillingen ist, verzögerte sich, Gott Lob, der Beginn der Autopsie, so daß unser wackerer Medicus hier seinen tief ohnmächtigen Freund reanimieren konnte."
"Danke!" hauchte Claudia mit einem tiefen Blick in die ärztlich gütigen Augen, schob den Rottweiler sanft beiseite und setzte die Reanimation Hennings erfolgreich fort. Auf seiner Zunge spürte sie einen Nachklang jenes Geschmacks nach Unfug, der, wie wir nun wissen, für AX-27 so typisch ist. Als beide nach geraumer Zeit einer Atempause bedurften, flüsterte Henning rauh: "Besorg schon mal die beiden Kisten Schampus, die ich verwettet habe."
Kommissar Faust aber umfing Claudias Sommersprossen und ihr hennaunterstütztes Flammenhaar mit einem Blick von so tiefer Melancholie, wie wir sie bisher nur von Inspector Jury kannten, und ging schweigend hinaus.

© 1996 by team fabula

Abbildung: Ist das Claudia? - Gemalt von - Amadeo Modigliani