Teil 1 - Stephan Meyer
Zelia, die Zwiebel, konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. "Das hat sie nun davon, die olle Schreckschraube!" dachte sie sich. Da hatte sich doch Millie, die "Menschin", tatsächlich Zelias Nachbarin aus dem Küchenregal gekrallt und sie - mir nichts, dir nichts - brutal aufgeschnitten. Und jetzt stand Millie da und rang nach Luft. Ihr schossen die Tränen in die Augen. Millie grabschte sich ein Haushaltstuch, das sie durch den Tränenstrom kaum erkennen konnte, und versuchte, die Sturzbäche in ihrem Gesicht aufzufangen. Sie hastete zum Fenster und riß es auf, doch das Zwicken und Brennen in ihren Augen wollte kaum nachlassen. Also ließ sie sich auf den Küchenschemel fallen und begann, laut schluchzend zu heulen. Und das an ihrem Glückstag!
Millies Schluchzen ließ aber auch Zelia nicht kalt. Eben noch voller Schadenfreude, wurde Zelia für einen Moment, für einen kurzen Moment zumindest, von Melancholie umströmt. Schließlich hatte sie doch genug Trouble in ihrem eigenen Leben. O.K., sie hatte einen Schwarm Verehrer - einen kleinen Schwarm - drei, genaugenommen. Früher war sie auch stolz darauf gewesen. Aber inzwischen... "Alles Schlappschwänze!" schimpfte sie und zog verächtlich den Rotz in der Nase hoch. Da war Klaus, die Küchenschabe. Ein heißer Kerl, ziemlich erotisch und voller durchtrainierter Beinchen. Einmal hatte er ihr in Ekstase sanft am Ohrläppchen geknabbert. Zelia war damals vor Freude und Vorfreude ganz aufgeregt gewesen.
Doch beim Knabbern war Klaus wohl auf den Geschmack gekommen und hatte begonnen, Stückchen für Stückchen von ihr abzubeißen. Entrüstet hatte ihn Zelia schließlich vom Regal gestoßen, so daß er ins Spülbecken gefallen war. Louie, das Lexikon, ihr zweiter Verehrer, war auch nicht der Renner. Ein Intellektueller eben, der sie ununterbrochen vollquatschte. Marxismus, Konstruktivismus, Anthroposophie. Zelia hatte jedesmal das Gefühl gehabt, vor Ungeduld platzen zu müssen, wenn Louie wieder "referierte". Und schließlich Bertram, das Brillenputztuch. Na gut, Bertram war schon ein lieber Kerl. Er hatte sich ständig um Zelia gekümmert, sie immer wieder zärtlich gesäubert. Aber dauernd gehegt und gepflegt zu werden, das war Zelias Sache nicht. Sie wollte das Leben von der wilden Seite kennenlernen!

Teil 2 - Bärbel Nymphius
"Hoffentlich sehe ich gleich nicht so verheult aus", dachte Millie verzweifelt. Gerade heute, wo sie doch endlich ihren Traummann zum ersten Mal alleine treffen würde. Ihr Herz schlug schon höher, wenn sie nur den Namen Harald hörte. Eigentlich wurde sie immer schon beim H... ganz aufgeregt, beim ...arald versagten ihr dann häufig die Beine den Dienst.
Nun, was den "Traummann" anging, machte sich Millie immer gerne etwas vor.
Da war Georg gewesen, den sie über eine dieser Agenturen kennengelernt hatte. Ein ganzer Mann, der ihrer Wunschpartner-Beschreibung vollkommen entsprach: Sportlich, reiselustig und schwarzhaarig. Er war Bodybuilder (sie selbst fuhr Fahrrad), kannte in jeder größeren Stadt Europas eine Menge Leute (insbesondere Frauen) und hatte zu allem Übel seine letzten verbliebenen schwarzen Haare mit Minipli gequält. Nichtsdestotrotz hatten sie sich ca. einen Monat lang regelmäßig getroffen, vermutlich damit das Vermittlungsgeld nicht ganz umsonst ausgegeben worden war.
Steffen hatte sie auf einem Konzert an der Musikhochschule kennengelernt. Sie hatte sich Hals über Kopf in Traummann Nr. 2 verliebt. Er erzählte ihr viel über Mozart, Opern, klassische Musik im allgemeinen und im besonderen, kurze Abstecher zur Moderne, dann wieder zurück zu Mozart, wie? was? Rolling Stones? Nie gehört! Das einzige, was von ihm geblieben war, war Millies vergrößerte Plattensammlung und eine flüchtige Erinnerung an eine Nacht mit Beethovens Fünfter.
Aber jetzt Harald! Zum gemeinsamen Kochen hatte er sie eingeladen, war das nicht süß? Ihre Phantasie ging wieder mal ein wenig mit ihr durch, als sie sich vorstellte, wie man beim Salat noch über die gemeinsame Arbeit sprach, bei der Pizza bereits über Lebensinhalte, und beim Mousse au Chocolat ...
Rrrrrrrinnngggg!!! Das Telephon riß Millie aus ihren angenehmen Tagträumen. "Hallo?"
"Hallo Millie, hier ist H..." Ihr Herz fing an zu klopfen. "...arald". Die Knie gaben nach.
"Ich habe ein Problem." Oh nein, er konnte heute nicht, er hatte etwas anderes vor, etwas Besseres, vielleicht eine andere Frau, vielleicht mochte er keine schwarzen Haare, oder nur nicht so kurze, sie hätte letztens die Bemerkung über Picasso nicht machen sollen, und ihr Eau de Toilette war vielleicht wirklich etwas zu aufdringlich, sagte Annemarie doch immer, schade, dabei hatte sie sich doch schon den ganzen Tag, ach was, die ganze Woche ...
"Millie? Bist du noch dran?" "Äh, ach, mmh, sicher. Du brauchst dir keine Vorwürfe machen, wenn du heute nicht kannst. Ich bin echt nicht sauer und..." "Hey, Millie, was ist denn los mit dir? Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du mir nicht noch mit ein paar Zwiebeln für die Pizza aushelfen kannst. Die sind mir dummerweise ausgegangen". Plumps. Stein vom Herz. "Klar doch, H... (seufz) ...arald, kein Problem. Dann bis 8 Uhr?"
"Bis gleich. Ich freu' mich."
Millie setzte sich direkt noch einmal auf den Küchenschemel, um laut aufzuschluchzen, diesmal aber vor lauter dummen Gedanken und Kribbeln im Bauch. "Ok, jetzt nur nichts vermasseln", sagte sie sich, raffte sich auf und schnippelte noch schnell den Salat zuende, den sie zum Essen beisteuern würde, um sich dann in Windeseile ein leichtes Sommerkleid und dezente Schminke anzulegen. Noch schnell die Zwiebeln vom Regal in die Einkaufstasche...
Auf einmal wurde um Zelia alles dunkel.

Teil 3 - Martin Weiß
Zelia hatte sich den Tod immer anders vorgestellt. Irgendwie feierlicher, würdevoller. Jetzt, so einfach in den Sack geworfen...
Früher, als sie noch in lockerer Gartenerde gestanden hatte und Millie nur ab und zu zum Gießen vorbeigekommen war, wenn es heiß und trocken war und sie schon glaubte, verdursten zu müssen, da hatte sie Millie verehrt, ja geliebt. Selbst als sie Millie eines Tages mit einem kurzen heftigen Ruck ausgerissen hatte, waren ihr kaum Zweifel gekommen. Millie hatte sie gehegt und gepflegt solange sie denken konnte; sie wußte schon, was für Zelia am besten war.
Sie hatte sich dann auch recht wohl gefühlt auf Millies Küchenbrett. Sie sah Millie jetzt viel öfter und hatte das Gefühl, viel mehr in Millies Leben integriert zu sein.
Zelia hatte so auch Harald kennengelernt; die Begeisterung, die er in Millie hervorzurufen schien, hatte sie zwar nie ganz nachempfinden können, aber Millie wußte ja, was sie tat.
Den Gedanken an den nahen Tod hatte sie verdrängt, nicht wahrhaben wollen. Sie hatte sich damit getröstet, daß es ja ihre Bestimmung war, eines Tages gegessen zu werden. Und sie mochte Millie. Wenn schon gegessen werden, dann von Millie, hatte sie oft gedacht. Jetzt war es also bald soweit.
Zelia hatte Angst. Sie hatte schon soviel gehört. Wie würde es wohl sein? Konnte das stimmen, daß man ihr die Haut in Fetzen vom Leibe reißen würde, Schicht für Schicht? Oder sie mit einem Messer in tausend Stücke hacken?
Sie hatte grauenvolles darüber gehört. Peter, die Möhre, hatte so etwas angedeutet. Dann war Peter eines Tages weg. »Weich gekocht«, sagte Jens, die Knoblauchzehe, den Zelia nicht mochte wegen seines strengen Körpergeruches. Schreckliche Vorstellung. Peter war so ein schöner, knackiger, junger Möhrich gewesen. Zelia hatte sich oft bei dem Gedanken ertappt, wie es wohl wäre, ein kleines, zartes Möhrchen zu sein und Peter zu begegnen...
Aber Zelia wußte, daß sie nicht mit dem Schicksal hadern durfte. Eigentlich hatte sie ja Glück gehabt. Wenn sie an ihre Verwandten in den holländischen Lagern dachte... Auf riesigen »Zwiebelfarmen« aufzuwachsen und dann zu Tausenden in großen Bottichen zerquetscht und schließlich zu Zwiebelpulver zermahlen zu werden. Schrecklich. Sie konnte das gar nicht glauben, als ihr Hans, der Fink, zum ersten Mal davon erzählt hatte. Aber sie hatte die weise Eule gefragt, die eines Nachts neben ihr gejagt und sie von Fajfr, dem Plagegeist, befreit hatte. Knut, die Eule, hatte traurig genickt: »Ja, ja, mein Kind, das gibt es. Aber das ist so schrecklich, das will keiner wahrhaben.«
Und dann die Erzählungen von Max, dem Storch, der schon weit herumgekommen war und eine würdevolle Traurigkeit ausstrahlte. Er sagte oft, daß es wohl noch viel schlimmer kommen werde. Es gebe jetzt viel mehr Menschen, wohin man auch komme, und unter den Menschen gebe es welche, die gnadenlos Jagd auf alle Pflanzen machten, und die sich »Fege-Arier« oder so ähnlich nennen würden. Zelia schauderte bei dem Gedanken... Plötzlich schaukelte alles um sie herum.
Millie betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Es dauerte jetzt zwar ein bißchen länger als früher, aber sie konnte sich immer noch sehen lassen! Jetzt noch schnell in der Küche vorbei, die Tasche mit den Lebensmitteln geschnappt und los. Harald wartete bestimmt schon!
Als sie auf die Straße trat, wäre sie um ein Haar mit einem Skateboard-Rüpel zusammengestoßen, der rücksichtslos den Bürgersteig heruntergekommen war. Sie strauchelte und fiel zurück gegen die Haustür. »Meine Frisur!«, dachte sie. »Unverschämter Bengel«, rief sie dem jungen Mann hinterher. »Paß doch selber auf, du blöde Zicke!«, echote es zurück. Die Einkaufstasche hatte sie noch an einem Henkel in der Hand. Ein paar Sachen waren herausgefallen. Sie raffte schnell alles zusammen und stopfte es wieder hinein. »Jetzt aber keine Zeit mehr verlieren«, dachte sie noch und ging eilig los.
Zelia spürte einen Schlag, der ihr fast die Besinnung raubte, hörte Millies Schrei und plötzlich war wieder alles hell um sie herum. Sie sah sich um. Sie konnte Millie nicht sehen. Sie mußte ein wenig unter die kleine Eingangstreppe gerollt sein. »Hier bin ich, Millie!«, wollte sie noch rufen. Da hörte sie Millie schon in schnellen Schritten davoneilen. Erst ganz langsam begriff sie die Situation:
Millie war weg - sie war FREI!
Das Leben war herrlich!

Teil 4 - Oliver Klären
"So," dachte sie, "was kommt jetzt als erstes?" Aus eigener Kraft konnte sie sich kaum bewegen, höchstens ein bißchen hin- und herrollen. Da hörte sie ein feines Getrappel auf dem Bürgersteig. Aha, dachte sie, Hundepfoten. Sie kullerte mit Mühen unter der Treppe hervor und richtete ihre Gedanken ganz auf den Hund, der ihrer Ansicht nach keinen besonders intelligenten Eindruck machte. "Nimm mich ins Maul und trag mich weg!" dachte sie. "Ich nehme dieses Ding da vorne jetzt ins Maul und trage es weg" dachte der Hund. Er nahm Zelia behutsam zwischen die Kiefer und trottete weiter.
Derweil versuchte Zelia, einen Plan zu fassen. Sie war zwar froh, endlich etwas von der Welt sehen zu können, was sie sich ja immer gewünscht hatte, war aber andererseits auch neugierig zu erfahren, wie es Millie mit ihrem neuen Traummann erging. Irgendwie fühlte sich Zelia für sie verantwortlich. Also beschloß sie, nach ihr zu suchen.
Sie erinnerte sich, daß Millie im Zusammenhang mit Harald ein paar Male die Worte "Studium" und "Wohnheim" erwähnt hatte. Das war also ihr Prinz, Student in einem Studentenwohnheim. Sie wußte von Maxens Erzählungen ungefähr, wo sich die Universität befand, und hoffte, dort auf Haralds Domizil zu stoßen. "Jetzt nach Süden, quer durch den Park" befahl sie in Gedanken. "Wann kommt endlich ein Baum? - Ah, ein Park" dachte der Hund. Es war zwar nicht ganz einfach, diesen gutmütigen Trottel dorthin zu dirigieren, wo Zelia ihr Ziel vermutete, zumal sie die Umgebung natürlich nur vom Hörensagen kannte, doch gelangten sie nach einer Weile in eine Gegend, wo viele junge Leute herumliefen, auf die die Beschreibung eines Studenten zutreffen konnte.
Allein - wie sollte sie jetzt zwischen all diesen Häusern und all diesen Menschen ihre Millie finden? Vielleicht war ihr Vorhaben doch etwas zu verwegen gewesen, sollte sie sich doch lieber mit dem Auskosten ihrer Freiheit begnügen. Da hörte sie hinter sich ein Knattern. Millie hatte ihr Auto einmal "Schabe" oder "Käfer" genannt (was hatte diese Blechbüchse nur mit Klaus gemein?); jedenfalls gab es ein prä>gnantes Geräusch von sich, so daß Zelia es erkannte. Millie versuchte gerade, sich in eine hoffnungslos zu klein geratene Parklücke zu manöverieren. Wahrscheinlich hatte sie eine ganze Weile mit der Suche nach einem Parkplatz verbracht, sodaß Zelia sie gerade noch erwischte. "Die Menschen sind doch ganz schön dumm," dachte sie, "fahren mit so einem Töf-Töf, um sich schnell bewegen zu können, und wissen dann nicht, wo sie es hinstellen sollen. Da ist es doch besser, man ist auf den Hund gekommen, so wie ich eben!"
Langsam kam Millie ihrem Ziel näher, aber es würde wohl noch ein Weilchen dauern, bis sie bei Harald sein würde. "He, du Dummkopf, kannst du nicht mal stillhalten?" Der Hund wedelte heftig mit dem Schwanz, reckte den Kopf in die Höhe und schnüffelte heftig, als hätte er etwas besonders leckeres gerochen. "Pizza" schoß es durch Zelia. "Ja Hündchen, lauf, such dein Freßchen!" Die Interessen dieses Tieres schienen ziemlich begrenzt zu sein; nur gut, daß Zwiebeln wohl nicht sein Fall waren. Wahrscheinlich hielt er Zelia für einen Spielball. Warum auch nicht.
Jedenfalls lief er mit ihr in den Garten eines großen Hauses und stellte sich mit den Vorderpfoten auf einen Mülltonne, die unter einem gekippten Fenster stand, aus welchem tatsächlich ein recht verheißungsvoller Duft hervorkam. "Wenn du dummer Hund ..." - aber er tat ihr schon den Gefallen und streckte sich so weit nach oben, daß Zelia durch das Fenster in Haralds Küche sehen konnte. Was sie dort erblickte, ließ ihr den Saft in den Schalen gefrieren...

Teil 5 - Beate Gerwin
Harald hatte sich überlegt, womit er die Pizza belegen sollte. Als Vegetarier hatte er sich natürlich schon dafür entschieden, nur Gemüse zu verwenden. Aber die genaue Entscheidung wollte er Millie überlassen - schließlich sollte es ein Abend werden, der ihnen beiden in bester Erinnerung bleiben sollte...
Naja, zumindestens sollte es sich doch gelohnt haben, daß er extra aufgeräumt und sogar das Bett neu bezogen hatte. Und über die kleineren Fehler seines Appartments würde der romantische Kerzenschein schon hinwegtäuschen, sagte Harald sich. Wen interessierte schon im Angesicht einer romantischen Nacht zu zweit, daß schon längst einmal hätte gestrichen werden müssen? Die Flecken von dem letzten Rohrbruch waren eigentlich aber nicht zu übersehen; und vielleicht hätte er doch noch einmal staubwischen können? Lagen dort in der Ecke nicht etwa Staubflocken? Nein? Dann aber mit Sicherheit hinter dem Heizkörper! Vielleicht sogar hinter dem Klo? Unter dem Tisch? Und unter dem Bett! Schmutz! Ungeziefer! Dreck!
Harald setzte sich wie paralysiert auf den Boden, sprang jedoch sofort wieder auf - die eventuelle Berührung mit Schmutz ekelte ihn jetzt wirklich an und versetzte ihn in Panik. Wiedereinmal. Dabei hatte er doch in den letzten drei Jahren gelernt, mit seinen Anfällen umzugehen. Ablenken mußt du dich, ablenken, sagte sich Harald. Aber es half nicht. Er mußte jetzt einfach aufspringen, den Staubsauger nehmen und das Zimmer reinigen, sofort!
Zelia sah durch das Fenster, wie Harald mit einem Staubsauger durch die Wohnung eilte. Ohne auf herumstehende Möbel zu achten, saugte er wie wahnsinnig den Boden: Die beiden Stühle lagen auf dem Rücken, da er sie bereits umgeworfen hatte._Gerade machte er sich unter dem Tisch zu schaffen, auf dem das ganze Gemüse lag. Ohne darauf zu achten, daß er mit seinen Schultern ständig von unten gegen den Tisch stieß, bemühte er sich scheinbar, irgendwelche Flecken zu entfernen.
Das Gemüse auf dem Tisch wurde unbarmherzig durchgeschüttelt; zwei Tomaten waren bereits heruntergefallen und die eine lag aufgeplatzt auf dem Boden. Ihre Innereien quollen aus ihr heraus, sie wand sich in tödlichen Schmerzen. Zelia war unfähig, den Blick von diesem Bild des Grauens abzuwenden. Sie erlebte die Todesqualen der Tomate regelrecht körperlich mit. Das restliche Gemüse, Knoblauchzehen, Lauch, Paprika, Spinat und Champignons versuchten, sich auf dem Tisch zu halten, um nicht ebenfalls in die Tiefe zu stürzen. Zelia konnte sogar durch die Fensterscheibe ihre entsetzten Schreie hören. Ohnmächtig betrachtete sie die Katastrophe.
Millie hatte inzwischen das Namensschild von Harald am Klingelbrett gefunden und läutete in genau diesem Augenblick.

Teil 6 - Daniela Heide
Harald, der gerade unter dem Tisch gegen den Fleck kämpfte, als ginge es um Leben und Tod, fuhr erschrocken auf und stieß erneut mit den Schultern gegen den Tisch. Der kippte in Zeitlupe, und genauso langsam rutschte das Gemüse vom Tisch auf den Boden zu, um schließlich über den Teppich zu kullern.
An der Haustür klingelte Millie erneut. Harald zuckte wieder zusammen, stand auf, überblickte das Chaos, wog die Chancen ab, in Sekundenschnelle noch aufzuräumen, merkte, daß er allein mit der Überlegung wertvolle Zeit verschwendete, kam zu der Überzeugung, mit Warten noch mehr Unheil anzurichten, und ging zur Tür.
Sie begrüßten sich, standen dann beide hilflos da und rangen nach Worten:
»Mh, also das hier ist Deine Wohnung?« (Sehr originelle Frage, Millie, sehr originell. Mindestens genauso gut wie »Mhm, also ich schätze, das große, runde, gelbe, warme Ding da oben ist die Sonne, oder?« Was soll er bloß von mir denken?)
»Jaja, ähm, hier wohne ich und ...« (Mhm, war wohl nicht so gut. Nächster Versuch.) »Möchtest Du nicht hereinkommen - obwohl, also es ist nicht aufgeräumt. Das heißt, eben war es schon, nur dann habe ich noch einen Fl ... eine Fliege gesehen und jetzt ... äh, naja, komm halt rein.« (Toll. Wirklich gut. Spätestens jetzt hält sie mich für einen kompletten Idioten. Völlig unbedarft in solch grundlegenden Dingen wie intelligenter Kommunikation, Höflichkeit und ... Ordnung. Seufz. Kann ja nur noch besser werden.)
Im Wohnzimmer schaute Millie dann etwas verdutzt auf die Szene, die sich ihr bot. Ein umgestürzter Tisch inmitten eines ansonsten relativ ordentlichen Zimmers, allerdings umgeben von verletztem Gemüse. Naja, ging doch. Nach seinen Ankündigungen hatte sie Schlimmeres erwartet als nur Gemüse auf dem Teppich und einen umgeworfenen Tisch. Wohnungen von Psychopathen sahen anders aus.
Harald bückte sich und fing an, das Gemüse aufzuheben und zu sortieren. »Was möchtest Du denn als Belag auf die Pizza?« Millie zählte auf: »Champignons, Broccoli, Tomaten...« »Zwiebeln?«
Sie überlegte rasch. Wenn sich der Abend nach ihren Vorstellungen entwickeln würde, würde Mundgeruch eher stören... »Nö, lieber nicht«, und Harald legte die Zwiebel, die er auf dem Fensterbrett gefunden hatte - Gott allein weiß, wie sie dahin kam - wieder zurück.
Zum Belag wurden schließlich unter anderem auserkoren: zwei der unverletzt gebliebenen Tomaten, eine sehr junge Gurke, die noch nicht richtig verstand, was mit ihr geschah, und ein sehr alter und weiser Broccoli, der der festen Überzeugung war, nach dem Essen zunächst in das große Urbeet zurückzukehren, um schließlich als Blumenkohl zu reinkarnieren. Sie alle wurden grausam (mindestens) geachtelt, eine Gruppe junger Champignons wurde außerdem geköpft, und ein unschuldiges Stück Käse brutal zerrieben.
Ein Sellerie, kräftig und frisch, vor Gesundheit strotzend - ein Bild von einem Sellerie eben - entging der Pizza, indem er sich unter die naheliegende Kommode rollte.
Gerade war er wieder ein Stückchen hervorgerollt, um Ausschau zu halten, da entdeckte er eine - äußerst gut gewachsene! - Zwiebel, die auf dem Fensterbrett lag und ebenfalls versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen.
Ihre Blicke trafen sich und Zelia hatte plötzlich das Gefühl, der Aufenthalt könne doch noch sehr, mhm, »anregend« werden...

Teil 7 - Simon Gerber
Millie und Harald hatten währenddessen ihre vegetarische Pizza fertiggestellt. "Nimm du das Blech", sagte Harald. "Wir gehen jetzt in die Gemeinschaftsküche, da ist der Ofen." - "Ihr habt eine Gemeinschaftsküche hier? Wie interessant!" Millie nahm das Blech, sie gingen hinaus, Harald schloß die Tür hinter ihnen.Das war für das überlebende Gemüse das Signal. "Ich dachte schon, mein letztes Stündchen hätte geschlagen", sagte eine der Tomaten. "Habt ihr gesehen, was sie mit den anderen gemacht haben?" Eine Verletzte stöhnte. Der Stangensellerie aber rollte sich ganz ungeniert unter der Kommode hervor. "Hallo, Du bist wohl neu hier.", begann er zu Zelia. "Ich heiße übrigens Alberich, aber alle nennen mich einfach Richie. Und du?" - "Zelia", sagte Zelia. "Zelia? Was für ein hübscher ..." Weiter kam er nicht, denn die Tür ging auf.
Voll Schrecken brach das Gemüse seine Gespräche ab und rollte auf seine Plätze. Doch Millie und Harald, die wieder hereinkamen, achteten nicht darauf. "Muß dieser Bennie ausgerechnet heute... es ist immer dasselbe mit ihm!" schimpfte Harald. Millie versuchte, ihn zu beruhigen. Der Tatbestand war der, daß Bennie, der zwei Zimmer weiter wohnte, den Ofen entgegen allen Abmachungen mit Beschlag belegt hatte für irgendeine seiner (nichtvegetarischen) Schweinereien. "Wir werden sie eben in einer halben Stunde hineinschieben." sagte Millie. "Ich habe auch noch gar keinen Hunger." Das war gelogen, sie starb vor Hunger. "Eine halbe Stunde? Du kennst Bennie nicht!" rief Harald. "Dann fangen wir doch schon mal mit dem Salat an, den ich mitgebracht habe." schlug Millie.
Plötzlich schrie sie auf: "Harald! Da, da!" - "Was ist los, Millie?" - "Da! Siehst Du es nicht? Eine Ka-ka-kerlake!" Es war der uns schon bekannte Klaus. Er hatte sich zu Millies Beutel geschmuggelt und hatte diesen nun auf der Suche nach Nahrung verlassen. Harald für auf. "Eine Kakerlake, in meinem Zimmer? Wo?" Der Anfall kehrte zurück. Es war schrecklich. "Ungeziefer!" keuchte Harald. Er griff nach dem nächstbesten Gegenstand - es war Richie, der Sellerie - und schlug auf Klaus ein. Richie verging Hören und Sehen. "Ungeziefer!" keuchte Harald. Klaus aber dachte noch: "Leb wohl, du schöne Welt! Leb wohl, Speck und Dreck! O Tod zur Unzeit, Tod!" Damit beendete er sein elendes Kakerlakendasein. "Ungeziefer, Ungeziefer!" keuchte Harald. Der Teppich wurde vom Boden gerissen, die Bücher aus den Regalen. Das Geschirr schepperte und klirrte. Harald tobte wie ein Berserker: "Ungeziefer, Ungeziefer!" Vergeblich versuchte Millie, ihn zur Räson zu bringen.
Auf dem Fensterbrett aber saß Zelia, von dem Chaos um sie herum unberührt, und vergoß ein paar Zwiebeltränen um ihren unglücklichen Liebhaber Klaus, an dessen Existenz nur noch ein schwarzer Fleck erinnerte.

Teil 8 - Ursula Merten
Der im wahrsten Sinne des Wortes angeschlagene Richie war achtlos in eine Ecke geworfen worden. "Zelia?" rief er leise. Zelia schluchzte: "Ach Richie, geht es Dir gut?" Bestürzt sah Richie ihre Tränen, was er natürlich völlig falsch interpretierte: "Naja, mir geht es schon noch vergleichsweise gut..." Zelia hörte gar nicht so genau hin. "Bitte Richie, ich wollte ja so gern was von der Welt sehen, und jetzt... Ich möchte so schnell wie möglich hier weg!" 'Mit dieser knackigen Zwiebel durchbrennen', bei diesem Gedanken röteten sich Richies Sellerieblättchen. Er überlegte, und dabei fiel sein Blick auf Millies Tasche. "He, Zelia, kannst Du Dich vielleicht vom Fensterbrett herunterfallen lassen?" Zelia blinzelte zwischen ihren Tränen vom Fensterbrett hinunter. Vorsichtig rutschte sie so nahe an den Rand, bis sie herunterplumpste. "Und nun?" fragte sie den inzwischen herangerollten Richie. "Na, unsere Chance hier herauszukommen ist die Tasche da vorn! Komm', ich helfe Dir hinein" antwortete Richie und stupste Zelia zärtlich an. Unbeachtet vom Chaos um sie herum kullerten sie gemeinsam in das Dunkel der Tasche.
Inzwischen hatte Millie Harald zumindest dazu gebracht, nicht weiter seine Wohnung auseinanderzunehmen. Zitternd stand er inmitten des Zimmers und starrte entsetzt auf nur für ihn sichtbaren Schmutz. Natürlich wußte Millie, daß Studentenwohnheime nicht gerade Tempel der Sauberkeit waren, worauf schon der in meisten Häusern beständig durch die Gaenge schleichende Geruch nach getragener Sportbekleidung und ungewaschenen Haaren hinwies. In der Tat putzten die meisten Studenten ihre Wohnungen nur anläßlich der jährlichen Zimmerbegehung. Allerdings wirkte Haralds Zimmer beneidenswert aufgeräumt und sauber, ja - abgesehen von dem aktuellen Möbeldurcheinander - geradezu steril.
Ein zwar noch kleiner, aber expontentiell wachsender Realitätsriss in Millies rosaroter Brille brachte sie zu der Überlegung, daß sie sich bezüglich des innenarchitektonischen Geschmacks von Psychopathen vielleicht doch getäuscht haben könnte. Ein näherer Blick auf Haralds verzerrtes Gesicht, daß sie doch vor kurzem noch so attraktiv gefunden hatte, erhäertete rasch ihren Eindruck, daß man nicht unbedingt rotglühende Kreuze vor schwarzgestrichenen Wänden mögen mußte oder gar überdimensionale Kühltruhen benötigte, um nicht ganz bei Trost zu sein. Mit leichtem Schauern schob Millie die Vorstellung beiseite, die nächsten drei Wochen mit Gurkenscheiben am nackten Körper und einem Sellerie-Knebel im Mund in Haralds Dusche zu verbringen, bis er sie mit einem grausigen Putzarsenal bewaffnet zu Tode schrubben würde. Fast schon spürte sie den beißenden Geruch von extra-starkem Toilettenreiniger in der Nase und das Kratzen einer Spülbuerste auf ihrer empfindlichen Haut. Millies lebhafte Phantasie beschränkte sich durchaus nicht nur auf die Persönlichkeit augenscheinlich interessanter Männer...
Wie eine Seifenblase war ihre Verliebtheit zerplatzt. Diese Erkenntnis schmerzte Millie trotz des gerade überlebten hysterischen Putzanfalls. Ob sie wohl jemals einen Mann finden würde, der nicht nur in ihren Träumen perfekt erscheint, sondern wirklich ein vernünftiger und sympathischer Mensch ist? Einer, mit dem sie gern einige Jahre oder vielleicht sogar den Rest ihres Lebens verbringen würde? Und er auch mit ihr? Um vielleicht zusammen Zwiebeln großzuziehen? Oder gar gemeinsame Kinder?

Teil 9 - Sven Rudloff
Während Millie derart ihrem Selbstmitleid nachhing, schreckte sie ob der ohrenbetäubenden Ruhe plötzlich auf -- wo war Harald? Eben hatte sie ihn noch sanft auf einen Stuhl gedrückt, damit er sich beruhigte, aber nun war er verschwunden. Lauerte er ihr in irgendeinem Winkel auf, mit einer Kehrschaufel oder gar der Toilettenbürste bewaffnet? Darauf gefaßt, jeden Moment die Mündung einer Flasche Fensterreiniger an der Schläfe zu spüren, ließ sie ihren Blick langsam durch das Dreivierteldunkel des verwüsteten Zimmers wandern.
Ein fast lautloses Japsen führte sie schließlich zum Schreibtisch, unter dem Harald zusammengeduckt inmitten seines Papierkorbinhalts leise vor sich hinschluchzte. So wirkte er gar nicht wie ein putzlappenschwingender Psychopath...
Harald schaute auf. »Es tut mir leid. Ich wollte Dich nicht erschrecken. Diese Anfälle kommen nicht oft und dann auch nur kurz, aber ich kann sie einfach nicht kontrollieren.«
In Millie wurden Mutterinstinkte wach. Sie knipste die Schreibtischlampe an und half Harald auf. Mitgefühl überschwemmte ihren eben noch hochalarmierten Körper. »Du hattest sicher eine schwere Kindheit«, konstatierte sie.
»Nein, ein paar Semester Medizin.«
Millie stutzte. Während sie sich auf die Bettkante setzten und Millie unvermittelt Haralds Hand hielt, schilderte er ihr mit abgrundtief trauriger Miene seinen Leidensweg: Die vielen Krankheiten und Viren, alle mögliche Bakterien und Giftstoffe und natürlich das ständige Händewaschen, all dies hatte ihn dazu gebracht, einen Putzwahn zu entwickeln -- und das in einem Studentenwohnheim, die für ihre Sauberkeit ja geradezu berühmt sind!
»Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich studieren soll; Medizin ist ja nur mein vorletzter Versuch gewesen. In Geologie hatte ich bei den Exkursionen ständig Panik vor Steinschlag, in Physik vor GAUs und in Informatik vor DAUs -- und in Mathematik mußte ich immer befürchten, hinterrücks von einem Lemma überfallen zu werden. Sobald ich etwas anderes studiere, verschwindet die alte Phobie, dafür taucht eine neue auf.«
»Und was studierst Du jetzt?«

Teil 10 - Klaus Gebhardt
"Psychologie, was sonst? Zum einen hat da sowieso schon jeder eine Phobby, zum anderen ist die Fakultät eine große Selbsthilfegruppe für Leute mit nachwirkenden Medizinstudium und anderen Kalamitäten. Also genau das Richtige für mich."
Zelia (eigentlich hieß sie ja Zwiebelia, aber weibliche Zwiebeln durften das "wieb" weglassen, weil der Name sonst irgendwie doppelt-gemoppelt sei) unterdessen rollte nachdenklich von der linken auf die rechte Schale. Was würde nur ihre Mutter Schalotte in so einem Fall tun? Zelia wollte den beiden irgendwie helfen.
Es war ja auch rührend romantisch, wie Minnie inmitten des Scherbenhaufens Haralds Gummihandschuhhändchen hielt und Harald den Feudel als Schmusetuch an die Wange drückte. Langsam und wärmend rann das Abwaschwasser aus dem Feudel und gab Haralds Hemd einen aparten modischen Stich.
Aber ewig würde die Situation nicht so bleiben können. Minnies neu entdeckte Muttergefühle können in dem Chaos nicht ewig Bestand haben, Abwaschwasser wärmt nur begrenzte Zeit und auch das Hemd war schon modisch genug. Schließlich erinnerte sich Zelia, wie sie ihrem Hundetaxi gedanklich Befehle gegeben hatte und nahm alle Kraft zusammen:
Zelia: "Harald, Du mußt hier raus" Harald: "Minnie, ich will nach Haus." Zelia: "Nein ... Minnie: "Wieso, Du wohnst doch hier?" Zelia: "... RAUS ! Harald: "Äh, RAUS will ich hier, sagte ich doch" Minnie: "Und wohin?" Harald: "Äh ... Zelia: "... Äh ... Minnie: "... ??? Zelia: "... Ähntweder aufs Land, wo es nicht so sehr auf absolute Sauberkeit ankommt" Harald: "... aufs Land wäre schön ..." Zelia: "(nun warte doch) ... oder zum Heiraten nach Las Vegas, wo in den Hotels sowieso permanent Andere saubermachen." Harald: "... aber vorher zum Heiraten nach Las Vegas. (Räuspert sich) Minnie, willst Du meine Putzfrau ..." Zelia: "... HARALD " Harald: "... ich meine, meine Frau werden?" Minnie: "Ach, Harald ...

Teil 11 - Martina Luzar
"... Das kommt jetzt aber ein wenig überraschend!" Harald: "Ach liebste Millie, sag doch ja, Du bist so lieb zu mir, nur Du kannst mir helfen!!!" Millie: "Helfen? Wie kommst Du denn darauf?" Harald: "Fang mir mir ein neues Leben an!"Richie stieß Zelia vo der Seite an: "Wie hast Du das denn jetzt wieder hinbekommen? Toll! Ich wollte schon immer gern mal nach Las Vegas - stell' Dir vor, so knackige Sellerie-Showgirls...., aeh, ich meine, Du und ich zusammen..." Zelia, die zufrieden vor sich hin lächelte (endlich hatte ihre Millie, was sie wollte), errötete leicht. Das wurde ja immer besser! Richie und sie... Vielleicht würde die Hochzeitsreise nach Hawaii gehen...
Sie schreckte aus diesem süßen Traum hoch, als sie Millies etwas lauter gewordene Stimme hörte: "Soll ich jetzt Deine Therapeutin spielen, oder was?" Da lief irgendetwas nicht nach Plan. "Da hast Du Dich aber geschnitten. Das ist doch kein Grund zum Heiraten! Wir kennen uns doch noch gar nicht richtig, wer weiß, was Du Dir bei Deinem Psycho-Studium so alles noch an Land ziehst! Wir wissen ja, was in dem Film geschehen ist..." Und vor ihrem inneren Auge erschien wieder die Dusche, nur dieses Mal lief das Blut nicht wegen Scheuerpulver und Klobürste... Harald sank in sich zusammen und schniefte: "Du bist doch meine einzige Hoffnung..." Traenen traten in seine Augen und er begann bitterlich zu weinen.
Millies Zorn und Unbehagen verflogen. Mist, wenn sie heulen, kriegen sie uns doch rum. "Nun wein mal nicht, wir finden schon eine Lösung. Laß uns erst mal was essen, dann sieht die Welt schon viel rosiger aus. Danach kannst Du mir dann von Deinen Problemen erzählen." Harald blickte hoch und sah Millie mit treuem Hundeblick (was auch sein Nachname war - einer mit Programm sozusagen) an: "Du hast recht. Danke."
Millie stand auf und wollte das Blech nehmen. Da sie ihm dabei den Rücken zuwandte, sahen nur Richie und Zelia das Blitzen in Haralds Augen, als diese Millies Bewegungen folgten. Zelia begann sich zu fragen, was sie wohl mit ihrem Gedankentransfer so in Gang gesetzt hatte...
Mit dem Blech in der Hand gingen die beiden in die Küche, um nachzuschauen, ob nun der Ofen frei war. Tatsächlich: Bennie war mit seinen "Schweinereien" schon fertig. Womit Millie aber nicht gerechnet hatte, war, daß sich Bennie als Traummann Nummer vier entpuppen würde: Toller Körper (trotz der augenscheinlichen Freude am Essen - in der Küche wurden nämlich gerade die "Schweinereien" verzehrt), ein liebes Lächeln - Millie schmolz dahin.
Mit einem wahrhaft umwerfenden Lächeln im Gesicht stellte dieser Traummann sich vor: "Hallo, ich bin B... (Herzklopfen) ...ennie (die Knie wurden weich). Ihr könnt jetzt Eure Pizza in den Ofen schieben, er ist noch warm, dann geht es auch ganz schnell. Setzt Euch doch noch ein wenig." An Millie gewandt: "Wer bist Du denn?"
Millie: "Ich bin Millie..." und bevor sie dieses Angebot mit Freuden annehmen konnte, sagte Harald etwas barsch: "Danke, aber wir haben noch was in meinem Zimmer zu erledigen. Komm Millie!"
Bei Fuß. Mit einem sehnsüchtigen Blick verabschiedete sich Millie, sich schon auf den Augenblick freuend, an dem sie die Pizza holen würden und hoffend, daß Bennie dann noch da sein würde. Harald gefiel diese Entwicklung gar nicht. Millie gehörte schließlich zu ihm.

Teil 12 - Erika Wendelken
Um dies allen Bennies der Welt klarzumachen, legte Harald seinen rechten Arm leicht, aber bestimmt um Millies Schultern, ehe er die Küchentür schloß.
Millie sah erschrocken zu ihm auf (Erwähnten wir schon, daß Harald sie um Hauptes Länge überragte?) und fragte mehr sich als ihn: "Was ist denn nun los?" Sie wußte nämlich wirklich nicht, was mit ihr los war - eben noch hatte der Luxuskörper des lächelnden Fleischfressers Bennie sie so unvermutet heftig angemacht, und nun ruhte Haralds vegetarischer Zeigefinger auf ihrem Schlüsselbein - just auf jenem Quadratzentimeter Haut, der von den zahlreichen erogenen Zonen ihres Körpers die zweitsensibelste war!
Harald spürte, wie Millie auf die zärtliche Berührung reagierte, und nahm zusammen, was ihm das Psychologie-Studium an gesundem Menschenverstand gelassen hatte: Er zog sie im Gehen näher an sich und flüsterte in ihre duftenden schwarzen Locken: "Millie - verzeih meinen unmöglichen Anfall vorhin. Was schief gehen konnte, ist heute wahrhaftig schiefgegangen. Komm, wir tun, was wir längst hätten tun sollen. Laß uns einen Apéritif nehmen, während die Pizza im Ofen ist." Er schob Millie sanft in sein Zimmer, streichelte noch sanfter mit dem Zeigefinger, dann mit seinen Lippen ihr rechtes Schlüsselbein und wandte sich danach zum Kühlschrank. Mit wenigen geübten Bewegungen füllte er in zwei Gläser Eiswürfel, Campari und frisch gepreßten Orangensaft und reichte ihr eins der Gläser. "Rein pflanzlich! Ich weiß doch, wie gern du das trinkst."
"Ja," murmelte sie verwirrt und dachte: "Woher weiß er das?" "Cheers!" sagte Harald, und sein Blick hielt den ihren fest, so fest! Dies war kein Hundeblick mehr, denn nomen ist nicht immer omen. "Seine Augen sind wie Bernstein!" durchfuhr es sie, "gelber Bernstein im Schatten dunkler Wimpern - wieso habe ich das bisher nicht gemerkt?" Und halblaut, wie zu sich selbst, sprach sie es aus: "Du hast gelbe Augen!"
"Na klar," lächelte Harald, der seine Contenance wiedergefunden hatte, "alle Tiger haben gelbe Augen, stimmt's?" Er trat hinter Millie und stieß dabei mit dem Fuß die alte Stofftasche beiseite, die dort auf dem Boden lag, so daß Zelia mit voller Wucht gegen Richie geschleudert wurde. Richie stieß ein Wort hervor, das Zelia noch nie gehört hatte. Sollte sie Louie, das Lexikon, jemals wiedersehen, so würde sie ihn nach der Bedeutung dieses Wortes fragen. Sie versuchte vergeblich, Richie ein Stück wegzuschieben, da sie das Gefühl hatte, ihre pralle Zwiebelhaut sei bei dem gewaltsamen Zusammenstoß aufgeplatzt. Aber Richie ließ sich nicht wegschieben, er küßte sie, er schlürfte und schmatzte, saugte den Saft aus ihr heraus, und fassungslos erkannte Zelia, daß sie Opfer eines vegetabilen Vampirs wurde! "Ach, wäre ich doch eine Knoblauchzehe!" konnte sie noch denken, ehe sie in Ohnmacht fiel.

Teil 13 - Torsten Schmidt
Auf einmal ging alles sehr schnell: Richie vernaschte Zelia und Harald vernaschte Millie. Im Taumel tiefer Gefühle sank Millie auf den Boden, blieb dabei mit dem rechten Fuß am Kabel der Schreibtischlampe hängen und katapultierte diese mit sattem Schwung in die Ecke. Ein kurzer Blitz, ein dumpfer Knall - die implodierende Birne (Osram, 40 Watt) entzündete die verstreut herumliegenden Reste all der Tomaten, Broccolis und Champignons, die gerade im Gemeinschaftsküchenkrematorium auf einem Pizzablech einen qualvollen Hitzetod starben.
Vor Schrecken starr blickten die überlebenden des Pizzamassakers auf Harald, der gerade zu sehr mit Millie beschäftigt war, um die sich anbahnende Katastrophe auch nur registrieren zu können.
Millie schrie: "Harald..." Und Harald: "Jaaa...!" Und Millie: "Harald, da ist Feuer..." Harald: "...ich bin der Tiger..." Millie: "...im Zimmer..." Und wieder Harald: "Laß es lodern in Dir!" Millie: "Hinter Dir lodert es auch...aaah!"
Doch Millies Einwände verhallten ungehört - unwiderstehlich wurde sie von einem schwarzen Strudel wilder Gedanken in eine Welt gezogen, die ihr bisher verschlossen war.
Millie: "Ooh, Harald..." (nicht nur die Beine wurden schwach...) Harald: "Millie, mein Königstiger, stärke mich!" Und Millie stärkte Harald, worauf alle Tiger dieser Welt stolz waren.
Nichts konnte die Liebenden stören, nicht die langsam vor sich hinröstende Gemüsefamilie auf dem Küchentisch, nicht der dicke, schwarze Qualm, der meist dann entsteht, wenn Teppiche, Bücher und Abfälle gleichzeitig verheizt werden und auch nicht das laute Klopfen an der Tür - Bennie wollte eigentlich nur Harald die Tour vermasseln.
Für Richie war Zelia ein gefundenes Fressen: so zart, so knackig bekam er selten eine junge Zwiebel zwischen seine Knollen. Sollte er es heute endlich schaffen, Zelia bis auf ihre trockene Epidermis auszusaugen? Wie sehnlich wünschte er sich dies, doch die letzten Male kam immer irgendwas dazwischen. Einmal mußte er ein Zwieblein einer Gruppe rüpelhafter Spargel überlassen, ein andermal übersah er in der Dämmerung die bedrohlichen Ausmaße einer italienischen Gemüsezwiebel. Mamma mia!
Diesmal mußte es gelingen: In der Enge der Tasche konnte ihm Zelia nicht entgehen, die Dunkelheit hüllte sein begehrliches Verlangen ein und Zelia war gerade in Ohnmacht gefallen... Konnte ihn von seinem Triumph noch etwas fernhalten?
Doch er ahnte Schlimmes: Was war mit dem beißenden Rauch, der über den Boden auf ihn zukroch und was mochte das Pochen an der Tür wohl bedeuten? Von weitem hörte er die Klänge eines Martinshorns, tatüü, tatüü...
Einen Augenblick versank er in Gedanken - er zögerte. Bis in die letzten Würzelchen spürte er ein unerklärliches Unbehagen. Sein Vater, Erwin, die dicke Sproßrübe, kam ihm in den Sinn und er hörte ihn - wie in all den Alpträumen der letzten Jahre zuvor - sagen: "Sohn, auch ein Sellerie hat eine Ehre. Denk nach, bevor Du austreibst!"
Richie, der legendäre Killer-Sellerie, wurde weich. So weich wie Peter, die Möhre (oder Carl, der Camembert). Er ließ ab von Zelias wunderschönem Zwiebelkörper und bemerkte erst jetzt, daß sie Garlic Heaven als Parfüm benutzte - oder hatte sie wieder nur zu nahe an einer dieser nutzlosen und unbedeutenden Knoblauchzehen gelegen? Überhaupt: Hatte sie schon einmal jemand angefaßt? Ekel stieg in ihm auf. Plötzlich hatte Richie nur noch eines im Sinn: Bloß weg hier!
Er rollte sich mit einer schnellen Umdrehung aus der Tasche und blieb wie gelähmt liegen: Das glibbrige, grasgrüne Wesen blinzelte ihm durch das Fenster freundlich zu.

Teil 14 - Waltraud Brunst
Eine schwer vergammelte Kiwi, die Harald vor gut einem Monat zum Nachreifen auf die Fensterbank gelegt und dort vergessen hatte, blickte mit unverholenem Amüsement auf das Chaos zu ihren Füßen. Um das kopulierende Paar aus seiner finalen Trance zu reißen, hätte es schon veritabler Stichflammen bedurft. Der vor sich hinkokelnde Biomüll störte die beiden nicht im geringsten. Wesentlich effizienter als der Zimmerbrand war da Bennies massives Eingreifen. Mit gezieltem Schwung kippte er den eiskalten Inhalt eines wohlgefüllten Wassereimers derartig tückisch in Haralds Livingroom, daß der Löwenanteil auf das Tigerpärchen Millie und Harald traf und die beiden schockartig auf der Zielgeraden stoppte - eine rüde Methode, mit der man gemeinhin Straßenköter in ähnlichen Situationen zu trennen pflegt.Bennies in der Küche jäh erwachte Sympathie für die schwarzlockige Millie war bei dem skandalösen Anblick inmitten der vegetarischen Müllhalde dahingeschmolzen wie Butter in der Sonne. Na, da hatten sich ja zwei gesucht und gefunden, der Diplom-Neurotiker Harald und diese Müslischlampe! Wieso, sinnierte er, war eigentlich noch nie jemandem aufgefallen, daß man auch bei Vegetarier-Paarungen unpassenderweise von "Fleischeslust" redet? Darüber sollte sich das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim mal ein paar einschlägige Gedanken machen! Wie wär's mit Spinat- oder Fenchellust? Oder Mango- oder Hüttenkäselust? Bennie brach ob seiner grotesken wortschöpferischen Einfälle in unbändiges Gelächter aus. Mädchen, wenn Dich wieder mal die Hüttenkäselust packt... zum Brüllen komisch!
Was der beißende Rauchgeruch nicht vermochte (in WGs ist man da einiges gewöhnt), das bewirkte Bennies Gebrüll. Im Nu standen drei Figuren auf der Türschwelle und beäugten - ja nach Charakter - fassungslos, entrüstet oder grinsend, den Tatort.
Millie hatte sich relativ schnell aufgerappelt und ihr geblümtes Sommerfähnchen zurechtgezupft. Ihr Tangaslip war wohl nicht mehr zu retten; er schwamm in einer trüben Wasserlache, in inniger Verbindung mit Broccholistrünken und Zwiebelschalen. Harald hingegen kämpfte noch verbissen mit seinen Doppelripp-Dessous. Und als wäre dies alles nicht genug der Schmach - just in dem Moment fiel ihm auch noch Katjas ätzender Spruch ein. Katja, mit der er einmal (und nie wieder) das Lager geteilt hatte, richtiger: die Auslegeware in Katjas Bude. Denn bis ins Bett hatten sie's seinerzeit nicht mehr geschafft nach einer höchst antörnenden Diskussion über Erica Jongs "Angst vorm Fliegen" im Verlauf eines obskuren Literatur-Workshops, der mehr als einmal die Grenzen zur Pornographie gestreift beziehungsweise überschritten hatte. Als Katja post coitum heftig atmend nach der Zigarette danach verlangt hatte, sprach sie mit einem vernichtenden Blick auf Haralds derangierte Erscheinung jenen unvergeßlichen Satz: "Kein noch so nackter Mann sieht so lächerlich aus wie ein Kerl mit herabgelassenen Hosen!!"
Außer Bennies süffisantem Feixen - er konnte die Wassereimer-Attacke ja ungestraft mit lebensrettender Löschtätigkeit rechtfertigen - fiel Harald noch der fassungslose Gesichtsausdruck der niedlichen Rotblonden ins Auge, mit der er kürzlich im Treppenhaus so anregend über BSE und die Vorzüge des vegetarischen Lebens geplaudert hatte. Lächerlichkeit tötet, hatte seine weise Großmutter immer gesagt. Am besten suchte er sich schleunigst eine andere Bleibe oder, noch besser, eine neue Uni am anderen Ende der Republik.
Verständlich, daß Zelia und Richie über dem ganzen Tohuwabohu ein bißchen aus dem Gesichtsfeld geraten waren. Dabei hatte sich hinsichtlich ihrer zwischengemüslichen Beziehungen auch allerlei ereignet:

Teil 15 - Wolfram Menzel
Zelia kämpfte sich durch Nebel in tiefer Dunkelheit. Wie war sie nur in diese Gegend gekommen? Wenn sie sich doch bloß an etwas erinnern könnte. Da plötzlich: Ein Lichtblitz. Ganz langsam kamen einige Erinnerungsfetzen zurück und nach einiger Zeit war ihr dann völlig klar, was mit ihr los war. Da hatte sich doch dieser Unhold von Richie sich einfach über sie hergemacht und sie dabei fast ganz erledigt. Warum er es nicht bis zum Ende brachte, wußte sie nicht, sie war nur froh, daß er es nicht geschafft hatte.
Jetzt wurde ihr auch plötzlich bewußt, wo sie sich befand und daß es so fürchterlich nach Leichen roch. Sie fragte sich, ob so wohl die Gemüsehölle riechen würde. Da aber die Intensität des Geruchs wohl doch eher ab- als zunahm machte sie sich etwas weniger Sorgen darum. Ja, sie verfiel sogar richtig ins Grübeln, warum Richie von ihr abgelassen hatte. Im Grunde hatte sie ja doch eine soziale Ader, die sie sich aber meistens gar nicht eingestehen wollte (war soetwas nicht unziemlich?). Eigentlich tat ihr Richie leid wegen seiner Begierde, die anfangs ja sogar recht angenehm gewesen war. Sie überlegte, ob man ihm nicht doch irgendwie helfen könnte, denn schließlich war ja nur das Ende so schrecklich gewesen, weil Richie sich nicht mehr hatte beherrschen können. Wer weiß, vielleicht könnte man ihn mit einer Art Psychotherapie soweit bringen, daß aus ihm ein recht brauchbarer Partner wurde. Zelia nahm sich also vor, tätig zu werden, und sie brach sofort auf, um nach Richie zu suchen.
Soweit mußte sie gar nicht rollen, denn sie fand ihn direkt vor der Einkaufstasche. Dort lag er am Boden und sah ziemlich geschafft aus. War ihm sein Abenteuer doch nicht so gut bekommen? Sogleich erwachte die seelsorgerische Ader in Zelia. Sie rollte an Richie heran und versuchte, ihn anzustupsen. Das führte dazu, daß dieser sich, wie von der Tarantel gestochen, gleich um einige Milimeter weiter bemühte und dann wieder völlig fertig liegenblieb. Vorsichtig sprach sie ihn an: "Hey, Richie, was ist denn los mit dir?"
Richie war inzwischen klar geworden, daß er sich völlig daneben benommen hatte und schämte sich nun fürchterlich. Daß Zelia ihn jetzt auch noch ansprechen musste, machte alles nur noch schlimmer. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Zelia versuchte es erneut, indem sie zu ihm rollte und beruhigend auf ihn einredete. Sie faselte etwas von "es wird schon wieder alles gut", "wenn du dir nur etwas Mühe gibts, dann kann dir sicherlich geholfen werden" und irgendwas von einer Therapie. Das letzte Wort war für Richie ein Fremdwort, mit dem er nichts anfangen konnte. Aber nun kam ihm eine Idee. Wenn Zelia nach allem, was er ihr angetan hatte, noch immer so freundlich reagierte, dann könnte man doch.....
Und dabei ging ihm auch gleich auf, wie man Millies und Haralds Topf für immer entfliehen konnte. Man müßte nur.....

Teil 16 - Oliver Hertel
"Zelia, siehst dort drüben die aufgetürmten Überreste der anderen, die man erbarmungslos zerstückelt hat? Wenn wir uns da drin verstecken, kommen wir hier vielleicht ungeschält heraus!" Zelia sah in die Richtung, in die der Sellerie zeigte und ihr gefror der Saft in der Schale. Dort hinein, zwischen die abgehackten, weggeschnittenen oder gepressten Überreste des anderen Gemüses? "Ich denke, das ist unsere einzige Chance." sagte Richie leise und drückte sanft an Zelias Wange. Zelia sah zu Richie, Ritchie sah zu Zelia, dann sahen beide zu Millie und Harald und setzten sich schließlich vorsichtig in Bewegung. Sie mußten um einen Schuh herumrollen, eine sich ausbreitende Lache überqueeren, in der ein schwarzes etwas schwamm, das wohl Millie gehörte und schließlich noch einen wimmernden Käsewürfel passieren, der zertreten am Boden klebte. Dann waren sie angekommen.
Inzwischen hatte Harald wieder die Hosen an. "Danke für Deine schnelle Löschaktion, Bennie, nimm Dir ein Stück Pizza, aber jetzt raus hier." sagte Harald. Damit schob er Bennie nach draußen, warf den Zuschauern einen ärgerlichen Blick zu und schloß die Tür. Jetzt mußte er erst einmal saubermachen, so eine Unordnung hatte es in seiner Wohnung noch nie gegeben. Er holte Kehrbesen, Schaufel und einen Lappen aus dem Küchenschrank und begann, die schwimmenden Gemüsereste auf dem Boden in einen Eimer zu entsorgen. Die Gemüseabfälle, die er auf einer Zeitung unter dem Küchentisch gehäuft hatte, schüttete er gleich mit dazu. "Autsch!" sagte Zelia. " Ungh!" jammerte Richie. Jetzt mußten sie nur noch darauf hoffen, daß Harald sie nicht in die Mülltonne, sondern auf einen Komposthaufen entsorgte, dann waren sie frei und die Gefahr, in einem Topf zu landen, wäre endgültig gebannt.
'Mein Gott, was hätte das für ein romantisches Beisammensein werden können, ein Desaster ist es geworden...' dachte Millie. Mit niedergeschlagenem Blick saß sie auf der Bettkante und träumte geplatzte Träume, während Harald wie wild den Boden schrubbte. "Ich sehe mal nach der Pizza." meinte sie, stand auf und ging zur Gemeinschaftsüche. Draußen standen immer noch die drei Zuschauer, die durch die Tür gespechtet hatten und tuschelten miteinander, verstummten jedoch in dem Moment, als Millie in den Flur trat. Millie wurde rot, versuchte die drei einfach zu ignorieren und ging in die Küche.
Dort saß Bennie auf einem Stuhl vor dem Ofen, mit einem Stück Pizza in der Hand. "Gut, eure Pizza. Hätte allerdings etwas Salami oder Schinken drauf sein können, so ist sie etwas fade." Dann lächelte er. Millie wurde schon wieder schwach. Bennie war einfach ein Traum, auch wenn er sie und Harald vor ein paar Minuten mit einem Eimer Wasser beinahe ertränkt hätte. Millie strich mit der Hand über das Kleid, dort wo es noch etwas feucht war, setzte sich auf einen Hocker direkt neben Bennie und starrte in den Ofen. Die Pizza sah gut aus, außerdem war ja Bennie gerade dabei, ein Stück zu vertilgen. Millie schaltete den Ofen ab, nahm ein Küchenhandtuch und balancierte das Blech vom Ofen auf den Tisch. Die Pizza duftete verführerisch.

Teil 17 - Günter Herzig
"Traummann hin, Träume her, jetzt habe ich erst einmal Hunger," Millie biß genußvoll in das Pizzastück, das sie für sich abgeschnitten hatte. Kauen beruhigt, und bald signalisierte auch der Bauch wieder ein wohlige Wärmegefühl.
Bennie, intensiv mit den ungewohnten Gemüsefasern in seinen Zähnen beschäftigt, schaute ihr beim Essen zu und dachte nach: "Na ja, an sich sieht sie ja recht appetitlich aus, eigentlich gar nicht wie eine, die sich nur von Kohlstrünken und Müsli ernährt. Rund an den richtigen Stellen. Vielleicht war die von mir vorzeitig beendete Paarung mit dem Rohkostneurotiker nur ein Therapieversuch? ... vorzeitig beendet??? Das hieße ja, daß ich in ihrer Schuld stände?"
Bennie unterbrach die minutenlange Küchenstille, indem er sich räusperte. "Man sollte diese fade Pizza etwas anfeuchten. Ich seh' mal bei mir nach, da müßte noch etwas Rotwein sein." Stand auf und ging raus, ließ aber die Küchentür offen. Millie konnte also sehen, daß er hinter der zweiten Tür links verschwand.
Und Millie sah genau hin. Mit einem Ruck stand auch sie auf, nahm das Blech mit dem Rest der Pizza und brachte es Harald. Er putzte noch immer. Gemüsereste und Wasserlachen waren zwar schon restlos beseitigt, aber wenn Harald beim Putzen war, hörte er damit nicht so schnell auf. Als Millie hereintrat, säuberte er gerade mit einem Pinsel die Drucktastenleiste seiner transportablen Musikanlage. Auf dem schwarzen Plastikgehäuse hatte sich natürlich schon wieder genügend Staub angesammelt."Ein richtiger Hausmann muß auch mal was essen," bemerkte Millie. Sie drehte sich einmal um 360 Grad - der Tanga war nirgendwo zu sehen - und verschwand so schnell wie sie gekommen war.
Natürlich konnte Harald nichts von Richies Wunsch ahnen, aber als überzeugte Ökofreak wußte er um die Bedeutung artgerechter Entsorgung. Und so landeten Zelia und Richie zusammen mit den anderen Gemüseresten wunschgemäß auf dem Komposthaufen. Zelia kam es vor, als ob sie nach einem einigermaßen glimpflich überstandenen Unfall statt im Krankengaus auf einer Party im Altenheim gelandet wäre. Es wimmelte nur so von betagtem Gemüse, und alle wollten wissen, was es mit dem späten Zugang auf sich hätte. Besonders zwei runzlige Tomaten, eine war außerdem matschig, fragten Zelia und Richie Löcher in den Bauch. Und weil man sich in fremder Umgebung immer an halbwegs Bekanntes klammert, rückten die beiden erst einmal näher zusammen...

Teil 18 - Jelena Haramis
Unterdessen war Millie vor Bennies Zimmertür angelangt. Ihre plötzliche Entschlossenheit war verflogen und nun sah sie sich unschlüssig der mit Aufklebern und Postkarten bedeckten Tür gegenüber.
"Was mache ich hier bloß, oh Gott, ich sehe bestimmt furchtbar aus nach der Sache mit Harald auf dem Teppich, wie konnte ich nur, Bennie muß mich ja für eine Schlampe halten..." - während es so in Millies Kopf ratterte, ging urplötzlich die Tür auf und Bennie stand samt umwerfendem Lächeln und Weinflasche vor ihr.
"Äh..., hallo, B... (Herzklopfen)... ennie (die Knie werden weich)," hauchte Millie. Mann, sieht die süß aus, wenn sie so unsicher vor sich hinstammelt, dachte Bennie. Was die nur an diesem Ökoneurotiker findet. Na ja, jeder macht mal Fehler.
"Hi, Millie, komm' doch 'rein, na, wie wär's mit einem Gläschen Rotwein?"
"Hm..., eigentlich habe ich ja schon einen Campari...," mehr brachte sie nicht über die Lippen, denn ehe sie es sich versah, stand sie schon mit einem Glas Wein mitten in Bennies Zimmer, der geschickt die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Millie fand es übrigens sehr interessant, daß diese Tür, im Gegensatz zu Haralds, einen Schlüssel im Schloß stecken hatte...
Draußen auf dem Kompost hatte sich ein imponierender (wenn auch inzwischen etwas ramponierter) Salatkopf durch die lärmende Gemüsemeute gerollt. "Nun macht mal halblang, ihr alten Klatschbasen, laßt doch das junge Paar erst einmal zur Ruhe kommen, sie sehen ja ganz mitgenommen aus." Aus der Art, wie alle sofort verschämt verstummten, schlossen Zelia und Richie, daß der Salat hier wohl tonangebend war. (Damit lagen sie richtig: Aufgewachsen unter Reihen und Reihen von Salatköpfen hatte er schon früh gelernt, sich durchzusetzen, um nicht in der Masse unterzugehen. Fünf Minuten nach seiner Ankunft auf dem Komposthaufen war er durch seine natürliche Ausstrahlung zur Autoritätsperson Nummer eins geworden.)
"Willkommen, ich bin Salomon. Ihr müßt schon verzeihen, Tilly und Tonja hier," - ein strafender Blick auf die beiden Tomaten, die prompt noch röter anliefen, als sie ohnehin schon waren (übrigens ein interessantes Spektakel) - "die sind immer ganz aufgeregt, wenn jemand Neues kommt und vergessen schon mal ihre guten Manieren." Zelia uns Richie, die sich angesichts Salomons etwas beruhigt hatten, stellten sich vor und erzählten dann erst einmal ausführlich, was ihnen alles zugestoßen war. Das versammelte vergammelte Gemüse lauschte gebannt und auch Richie hörte erstaunt zu, was vor Zelias Ankunft bei Harald geschehen war. Als sie von Klaus' grausamem Tod berichtete, wurde ihm natürlich einiges klar, aber der Stich der Eifersucht verschwand, als Zelia von Richies Rettungsplan erzählte und ihm dabei anhimmelnde Blicke zuwarf, die Bände sprachen.
"Ach, wie romantisch!" seufzte eine schon leicht grünliche Orange, die eigentlich gar nicht dort sein durfte, weil ja Südfrüchte, wie jeder ordentliche Wohnheiminsasse weiß, nicht auf den Kompost gehören. "Jetzt habt ihr alles überstanden und könnt für immer zusammen bleiben."
Ja, das wäre schön, dachte Zelia. Sie könnte mit Richie ein kleines Beet am Rande des Komposts schaffen, wo sie gemeinsam kleine Selleriezwiebeln ziehen und ihren Lebensabend verbringen könnten... Halt! War sie nicht viel zu jung, um sich schon zu binden? Was war mit der wilden Seite des Lebens? Und Richies Saugneurose? Sie blickte in seine schmachtenden Augen. Das Leben müßte ihr doch mehr zu bieten haben!

Teil 19 - Anke Martina Brauer
Währenddessen sah Millie sich in Bennies Zimmer um. Es verschlug ihr die Sprache. Die Möbel waren ultramodern, die Wand übersäht von Postkarten und Porträts seiner Ahnen, ein Regal enthielt Werke von Philosophen und Porzellannippes, ein anderes, breiteres, viele Gesellschaftsspiele, der CD-Turm enthielt CDs von Heino und den Wildecker Herzbuben. Hm. Der Raum war pedantisch aufgeräumt und völlig frei von Staub und anderem Dreck. So hatte sich Millie das nun auch wieder nicht vorgestellt, obwohl dieses Zimmer dem von Harald eindeutig vorzuziehen war. Offensichtlich geriet sie nur an Männer, die einen kleinen oder großen Sprung in der Schüssel hatten.
Sie merkte nicht, daß Bennie die Tür von innen abschloß und den Schlüssel in die Hosentasche steckte. Daß Benedikt Gustav Johann (wie Bennie mit Taufnamen hieß) ihr vierter Reinfall werden sollte, ahnte sie ebenfalls noch nicht. Bennie stellte anschließend die leere Weinflasche auf den Tisch, ohne jedoch noch irgendeinen Gedanken an die Pizza zu verschwenden (die aber bereits den Weg in Haralds Magen gefunden hatte), und holte noch eine Flasche Weißwein aus dem Schrank, die er ebenfalls auf den Tisch stellte. "Setz dich doch!" sagte er zu Millie, die gedankenverloren vor dem Bücherregal stand. "Ääääh, eh ja, B... (Herzklopfen)... b... b... ennie (die Knie werden trotzdem wieder weich)," stammelte Millie und setzte sich auf einen der beiden Sessel im Raum. "Darf ich einschenken?" fragte Bennie.
Zum selben Zeitpunkt wurde Zelia aus ihren Gedanken gerissen, weil eine Spargelgruppe ihre Gemüsikalität mit einem (reichlich falsch dargebotenen) Willkommensständchen beweisen wollte. Salomon sorgte jedoch schnell für Ruhe, und Richies aufkommende Eifersucht legte sich wieder. Plötzlich gab es eine neue Lawine vergessenen und daher vergammelten Gemüses. Darunter waren ein Mangold, der sich als Manni vorstellte und bei dessen Anblick Zelias Schmetterlinge in ihren Schalen nur so flatterten (was Richie bemerkte, ihm aber gar nicht gefiel), vier sich zankende Auberginen, die sich Thea, Käthe, Marga und Lilo nannten, sowie... Brillenputztuch Bertram.

Teil 20 - Frank Heinlein
Zelia vergoß vor lauter Wiedersehensfreude über das unerwartete Zusammentreffen mit Brillenputztuch Bertram einen Strom von Zwiebelsafttränen, der die alten und neuen Kompostbewohner um einige Zentimeter wegrutschen ließ - angesichts der Tatsache, daß die meisten unter ihnen schon recht schrumpelig oder matschig waren, eine erstaunliche Leistung. Nur Richie rührte sich nicht vom Fleck: ihm war endgültig klar geworden, daß Zelia sein Traumgemüse war. Er würde sie weder aussaugen noch von irgendwelchen knackigen Sellerie-Showgirls in Las Vegas träumen, nein, er würde ihr immer treu bleiben, und alles was er wollte, war, mit ihr ein gemeinsames Beet zu beziehen, in dem sie kleine Selleriezwiebeln großziehen würden...
Richie sammelte alle seine Kräfte, um sich auf Bertram zu stürzen, der Zelia gerade innig zu umarmen schien (in Wirklichkeit huldigte er nur seinem angeborenen Putzfimmel und versuchte, seine alte Freundin zu säubern, obwohl er selbst nach seiner rätselhaften Reise nichts mehr von seiner früheren Reinheit an sich hatte). Just in diesem Augenblick erschien eine Hand, die Bertram brutal nach oben riß: "Was ist denn das für eine Sauerei!? So ein alter Lappen gehört doch nicht auf den Kompost!". Kurze Zeit später folgte ein wahrer Platzregen gammeliger Salatblätter, der Zelia und Richie unter sich begrub und ihnen für einige Sekunden den Atem raubte.
In der Zwischenzeit hatte Bennie Millie bereits zwei Gläser Weißwein eingeschenkt (und sich selbst noch ein paar mehr). "Siehst Du die Portraits? Sind alles meine Vorfahren, alles Adelige." Hm, bis jetzt hatte sich Millie noch nie viel aus Aristokraten gemacht (außer englischen, natürlich). "Und da, die Postkarten, Goa, Acapulco, Bangkok - war ich überall auch schon." So, so. Wieso eigentlich Bangkok? War das nicht eher was für... Millies Gedanken wurden je durch einen Schatten unterbrochen, der vor Bennies Fenster vorbeihuschte (warum hatte Bennie eigentlich die Vorhänge zugezogen?).
"Du, Bennie, ich glaub, da spioniert jemand vor dem Fenster, ich geh mal lieber nachgucken". Irgendwie war Millie mulmig geworden, und sie war froh über einen Vorwand, um Bennies Redefluß zu unterbrechen - nach der Erfahrung in Haralds Zimmer wollte sie aber auch weitere peinliche Überraschungen vermeiden. Vorsichtig schob sie den Vorhang beiseite und äugte in den Garten. Was sie sah, verschlug ihr den Atem: Harald lief mit Toilettenbürste und Staubtuch bewaffnet durch den Garten, verfolgt von zwei Männern, die ihn anscheinend in eine Zwangsjacke sperren wollten. Was jedoch viel erstaunlicher war, war der Mann, der vor dem Fenster stand.
Millie stockte der Atem. Sollte dies etwa...? Wie in Hypnose öffnete sie das Fenster. Das dabei entstehende Geräusch ließ den Mann im Garten herumfahren. "Oh, hallo, ich bin Konrad, vertrete während der Ferien den Hausmeister, wollte nur mal nach dem rechten sehen, der ganze Lärm und Gestank, weißt Du. Ich hoffe, ich störe nicht!?". "K... (schluck) ... K-onrad?". Vor Millies Augen schien sich alles zu drehen.

Teil 21 - Renald Hennig
Bennie, wenn auch nicht ganz normal, hatte doch einen ausgeprägten Sinn für Gelegenheiten. Und einen möglicherweise noch größeren für davonschwimmende Felle. "Oh, Konrad, toll, daß Du vorbeischaust. Ich glaub`, es wär nicht schlecht, wenn Du mal bei Harald nach dem rechten sehen könntest. Er hat wohl die Tür aufgelassen, als er den netten Herren aus der Psychiatrie den Weg nach draußen gezeigt hat."
Mit diesen Worten griff er zum Griff - dem am Fenster - und unternahm einen vergeblichen Versuch, selbiges zu schließen. Millie erwachte teilweise aus ihrem hormonbedingten Koma. Dunkel erinnerte sie sich an eine der Aussagen der Seminarleiterin aus dem VHS-Kursus "Kraft durch Liebe": "Sie müssen Ihr Leben selbst in die Hand nehmen!" Es war Zeit, zu handeln. Sie war nicht einmal ganz sicher, ob es seine schwarzen Haare, die angenehm männlich-sonore Stimme oder vielleicht seine handwerklichen Fähigkeiten waren (warum fiel ihr eigentlich bei letzterem Gedanken ihr abwesender Tanga-Slip ein?), jedenfalls war es um sie geschehen.
"Es tut mir leid, Bennie, aber ich muß jetzt wirklich gehen. Ich muß heute unbedingt noch . . . noch . . . bei meinem Patenkind vorbeischauen. Du weißt schon, Geburtstag und so ... Ach, und K ... (Herzklopfen) ... onrad (glücklicherweise konnte sie sich am Fensterbrett festhalten), könntest Du mal nach meinem VW schauen? Der quietscht immer so, wenn ich den Motor anlasse." Erst jetzt entfernte sie sich ausreichend vom Fenster, daß Bennie es schließen konnte. Der Griff hatte noch keine 45° überwunden, als Millie Bennie mit all seinen blaublütigen Ahnen und halboffenem Mund hinter sich ließ. Die Tür wollte nicht sofort aufgehen, aber ein kräftiger Ruck, und sie war draußen. Bennie verfluchte den Tag, als Doris ihm nicht nur die Bratpfanne über den Kopf gezogen, sondern auch das Türschloß beim Hinausstürmen arg lädiert hatte.
Millies Pheromonausstoß hatte indessen bei Konrad zu einem synaptischen Chaos geführt, welches er als Sympathie für diese attraktive und sensible junge Frau interpretierte. Er ließ den vergammelten Lappen wieder auf das vergammelte Gemüse fallen . . . wo Bertram sich unversehens neben Aubergine Marga wiederfand. "Puh, daß ging gerade noch einmal gut. Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Zelia . .", seine Stimme wurde lauter "Zelia, wo steckst Du?"
In der Zwischenzeit hatte Richie Konsequenzen aus seinen Überlegungen gezogen, Zelia zärtlich mit einem seiner Blätter berührt und ihr den üblichen Unsinn über eine gemeinsame Zukunft, ewige Treue und daß er ohne sie nicht mehr bla bla bla erzählt. Zelia wurde warm um das Auge. Vergessen war die Warnung von Louie, dem Lexikon: "Zwiebelia, sei vorsichtig. Männer sind wie Zwiebeln: Entfernt man die Schalen, bleibt nichts übrig, und es ist zum Heulen." Und sie mußte zugeben, daß sein Küssen und Saugen einen durchaus stimulierenden Effekt auf sie hatte. Sollte vielleicht . . .? "Zelia, wo bist Du? Melde Dich!" Unsanft wurde sie aus ihren Träumen gerissen, arbeitete sich an den Salatblättern vorbei und aus Richies Umarmung heraus.

Teil 22 - Elisabeth Lutz - Finale
Mit aller Kraft zog Millie Bennies Tür hinter sich zu und spähte den Gang zu beiden Seiten entlang. Sie erinnerte sich an ihre Sachen, die sich noch in Haralds Zimmer befanden. Die rüttelnden Geräusche hinter ihr machten Millie klar, daß sie sich beeilen mußte. Bennie mühte sich an seiner Zimmertür ab. Irgendwie hatte sich das Schloß verklemmt. "Ich würde es mal mit dem Schlüssel versuchen", meldete sich Konrad, der ihn vom Fenster aus beobachtete.
Bennie lief rot an. Reichte es nicht, daß seine Romanze mit Millie geplatzt war, bevor sie richtig begonnen hatte? Mußte es auch noch Zeugen geben? Ohne sich umzudrehen, fummelte er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und steckte ihn ins Schloß. Enttäuscht, daß die Show vorüber war, entfernte sich Konrad von Bennies Fenster. Der Geruch des Komposts überlagerte die restlichen Pheromone, die noch in der Luft schwebten. Puh, was hatte ihn denn da eben gepackt?
"Sie benutzt wohl eins von diesen Unisex-Parfums", überlegte er. "Wie soll man dabei schwul bleiben?" Er besann sich, was er zuletzt getan hatte. "Der Schmuddellappen", schoß es ihm durch den Kopf. Er nahm den Lappen wieder vom Kompost und trug ihn zum Mülleimer.
Millie war gerade vor Haralds Zimmer angelangt, als sie hörte, daß sich Bennies Tür öffnete. Mit zwei schnellen Schritten war sie im Raum. Ihre Tasche hing über einem Stuhl, und die Salatschüssel stand auf dem Tisch. Nur ihren Tanga konnte sie jedoch entdecken. Aber wenn das das einzige Lehrgeld wäre, das sie ihre neuen Erfahrungen zu zahlen hätte, sollte es ihr recht sein.
"Zelia! Zelia!!" Bertram ignorierte Salomons Hinweis, daß lautes Schreien auf dem Kompost - für viele Gemüse die letzte Ruhestätte - pietätlos sei. "Bertram, ich bin hier." Millie konnte seine ausgefaserten Ränder bereits erkennen. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz. Richie war Zelia gefolgt, doch es gelang ihm nicht, sie an ihrer glatten Hülle festzuhalten. Also schlug er, seinen Ekel vor ihrem leichten Knoblauchduft überwindend, sein Vampirgebiß in Zelias Leib. "Chelia, ich 'iehe hich!" Richie erkannte, daß Liebeserklärungen mit vollem Mund viel von ihrer Romantik einbüßten. Er nahm die Zähne aus Zelia, die die Gelegenheit zur Flucht nutzte. "Bertram! Rette mich!" Zelia konnte ihn jetzt gut sehen. Sie war allerdings erstaunt, daß Bertram schwebte.
Millie stand in Haralds Zimmer und hörte Bennie näher kommen. Das Fenster zum Garten könnte die ersehnte Fluchtmöglichkeit sein, beschloß sie. Ohnehin, sie hatte gar keine Zeit mehr, andere Pläne zu machen. Sie öffnete das Fenster. "Hallo. Lange nicht gesehen." "Oh, K..." (Millie schluckte) "...onrad," (sie stellte fest, daß es gar nicht so schwer war, Männernamen ohne Schwächeanfall auszusprechen) "ich habe Dich gar nicht gesehen. Kannst Du mir hier raushelfen?" "Klar. Du könntest zwar auch die Tür benutz..., oh, mach schnell!" Konrad hatte rasch erkannt, daß der an der Tür erscheinende Bennie der Grund für Millies seltsames Verhalten war.
Millie schwang sich übers Fensterbrett auf die Mülltonne, griff die Hand, die Konrad ihr helfend anbot, und hüpfte zu Boden. "Danke", sagte sie. "Keine Ursache." Trotz der Pheromone, die Millie wieder verströmte, hatte Konrad sich jetzt im Griff. Aber nett sah das Mädel aus, besonders wenn sie so verlegen war. "Wie heißt du eigentlich?" Bennie guckte Millie hinterher. "Es gibt andere Frauen", überlegte er und begann, Haralds Zimmer nach interessanten Sachen zu durchsuchen. Der würde ja erstmal nichts davon brauchen. Millie folgte Konrad, der angeboten hatte, sie bis zu ihrem Auto zu begleiten. Doch am Kompost wurde ihr ein fauliger Apfelrest, der auf dem Weg lag, zum Verhängnis. Sie rutschte aus, fand am Komposthaufen keinen Halt und fiel hin. Daß sie dabei eine Zwiebel vom Kompost riß, die in ihrer Tasche verschwand, bemerkte sie nicht. Ihr Knie blutete, als sie sich wieder aufrappelte.
"Das sieht nicht gut aus. Wenn du in meine Wohnung mitkommst, kann ich es desinfizieren und verpflastern", bot Konrad Millie an. "Keine Angst, ich bin schwul", fügte er hinzu, als er ihren skeptischen Blick sah. "Na, dann...", sagte Millie. "Aber warte, ich will mir wenigstens ein Taschentuch draufhalten, damit niemand denkt, hier wäre jemand abgestochen worden. Das blutet ja wie Schwein." Sie griff in ihre Tasche, doch statt der gesuchten Taschentücher kam ihr eine Zwiebel zwischen die Finger. "Wie kommt die hier rein?", murmelte Millie. "Halt mal!", sagte sie zu Konrad und drückte ihm die Zwiebel in die Hand. Endlich fand Millie ein Taschentuch, das sie sich sofort aufs Knie drückte. "Appetitlich sieht die nicht gerade aus", konstatierte Konrad. "Aber als Pflanzzwiebel läßt sie sich vielleicht noch verwenden. Ich habe ein kleines Gemüsebeet."
Zelia wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Als unappetitlich bezeichnet zu werden, war kränkend. Aber da sie die Nase von Abenteuern voll hatte, freute sie sich zugleich auf die Aussicht, an einem sonnigen Flecken Wurzeln schlagen zu dürfen. Richie hatte Zelias Abgang beobachtet. Enttäuscht und verletzt fragte er sich, was er jetzt tun sollte. Sein Blick fiel auf Manni, der ihn feixend anvisierte und den Mund öffnete, um einen Kommentar loszuwerden. Richies Kummer schlug in Wut um. Kein Gemüse sollte sich jemals wieder über ihn lustig machen. Er stürzte sich auf Manni, und begann, ihm den Saft aus den Adern zu saugen.
"Das Leben als Vampir ist doch gar nicht so übel", beschloß er, nachdem er auch Salomon, der ihn zur Ordnung hatte rufen wollen, den Garaus gemacht hatte. "Man wird respektiert, und hier auf dem Kompost ist stets für genug Nachschub gesorgt."
"Kann ich dir etwas anbieten?", wollte Konrad wissen, nachdem er Millies Knie verarztet hatte. "Ich habe Mineralwasser da, Eistee oder Gemüsesaft..." "Danke, mein Bedarf an Gemüse ist erstmal gedeckt", meinte Millie, die ihren Humor langsam wiederfand. "Aber ein Wasser nehme ich gerne." "Erzählst du mir, was vorhin los war?", fragte Konrad. Millie überlegte kurz. "Ach, was soll's", sagte sie sich. Zu zweit konnten sie vielleicht über ihre Erlebnisse lachen. "Harald hatte mich zum gemeinsamen Kochen eingeladen", begann sie.

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Zwiebeln weinen nicht - Gemalt von Paul Cézanne


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